Migrantisches und postmigrantisches Engagement

Vom Zusammenwirken kommunaler Entwicklungspolitik und Integrationsarbeit

Seit dem 1. September 2022 hat das Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis eine Koordinatorin für kommunale Entwicklungspolitik.
Isabelle François · Rhein-Neckar-Kreis · 29. August 2023
Referierende und Moderatorin des Workshops: von links nach rechts, Dr. Rajya Karumanchi-Dörsam, interkulturelle Promotorin Regierungsbezirk Karlsruhe, SIMAMA - STEH AUF e.V.; Sebastian Boye, BTE-Referent (Bildungsreferent vom Programm Bildung trifft Entwicklung); Rolande Haun, Place e.V. und MeineWelt e.V.; Elena Breitkopf (geb. Vásquez Tirado), Bildungsreferentin und Projektleiterin bei Bunte Brise e.V.; Inas Kamran-Yilmaz, ang. Lehrerin, Islamwissenschaftlerin; Mannheimer Institut für Integration und interreligiöse Arbeit e.V.; Isabelle François, Koordinatorin für kommunale Entwicklungspolitik, Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis.
Referierende und Moderatorin des Workshops: von links nach rechts, Dr. Rajya Karumanchi-Dörsam, interkulturelle Promotorin Regierungsbezirk Karlsruhe, SIMAMA - STEH AUF e.V.; Sebastian Boye, BTE-Referent (Bildungsreferent vom Programm Bildung trifft Entwicklung); Rolande Haun, Place e.V. und MeineWelt e.V.; Elena Breitkopf (geb. Vásquez Tirado), Bildungsreferentin und Projektleiterin bei Bunte Brise e.V.; Inas Kamran-Yilmaz, ang. Lehrerin, Islamwissenschaftlerin; Mannheimer Institut für Integration und interreligiöse Arbeit e.V.; Isabelle François, Koordinatorin für kommunale Entwicklungspolitik, Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis.
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Diese ist bei der Stabsstelle für Integration und gesellschaftliche Entwicklung angesiedelt. Die Projektstelle wird durch eine Förderung der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ermöglicht.Ziel der kommunalen Entwicklungspolitik ist es, im Globalen Süden zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung beizutragen. Es geht um einen Aufschwung der Lebenssituationen der Menschen vor Ort und um die Förderung von globaler Gerechtigkeit. Dies kann z. B. durch direkte Kooperationen mit Kommunen im Ausland stattfinden, durch Sensibilisierungs- und Bildungsarbeit der Menschen in Deutschland oder durch die Umsetzung von fairer Beschaffung in den Kommunen. Koordinatorinnen und Koordinatoren für kommunale Entwicklungspolitik tragen zu einer möglichst breiten Verankerung des Engagements in der Verwaltung und Gesellschaft bei. Im Rhein-Neckar-Kreis liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Einbeziehung von migrantischen und postmigrantischen Engagierten, Expertinnen und Experten sowie auf der Förderung von Kooperationen mit Kommunen. Bei der dritten Integrationskonferenz des Rhein-Neckar-Kreises am 17.07.2023 wurde hierzu ein eigener Workshop durchgeführt.

„Es ist gut, dass unser Engagement in diesem Workshop thematisiert wird. Es ist zu oft unsichtbar und fehlt in den Diskussionen zu Integration“, so die Rückmeldung einer Teilnehmerin des Workshops „Engagement in Nachhaltigkeit! Wie berücksichtigen wir (post)migrantische Expertise?“

Zugegeben, es war gewagt, so ein facettenreiches und breites Thema in einem 75-minütigen Workshop anzugehen. Begonnen wurde mit der Frage: Worüber reden wir, wenn wir von migrantischem und postmigrantischem Engagement und Expertise sprechen? Und warum ist die Expertise in Bezug auf Nachhaltigkeit so wichtig?

Die Referentin Dr. Rajya Karumanchi-Dörsam, Interkulturelle Promotorin im Regierungsbezirk Karlsruhe, gab einen Einblick in den Bereich des (post-)migrantischen Engagements. Durch die Vielfalt und Dynamik des Bereichs gibt es keine einheitliche Definition (post)migrantischer Organisationen. Dafür existieren aber viele selbstbestimmte Begriffe, die unterschiedliche Positionierungen der Akteurinnen und Akteure widerspiegeln: von Kulturvereinen oder migrantischen Selbstorganisationen über Glaubensgemeinschaften bis hin zu Neuen Deutschen Organisationen oder BIPoC-Zusammenschlüssen[1]. Zum (post-)migrantischen Engagement zählen darüber hinaus Individuen, die stark vernetzt sind, sowie informelle Initiativen.

Das postmigrantische Engagement im Speziellen bezieht sich u. a. auf das Engagement von Menschen, die in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben und hier sozialisiert wurden. Auch Afrodeutsche, die ggfs. seit mehreren Generationen hier wohnen, werden manchmal aufgrund ihres Aussehens, Namens, der Religion oder weiterer externer Zuschreibungen nicht als Teil der deutschen Gesellschaft anerkannt. Diese erlebten Realitäten beeinflussen das Engagement, auch wenn die Engagierten sich nicht als Migrantinnen oder Migranten bezeichnen oder per Definition als solche bezeichnet werden können. Durch den Begriff des postmigrantischen Engagements werden die Aushandlungsprozesse gesellschaftlicher Machtstrukturen für diese Menschen mit aufgegriffen.

 

Worin liegt der gemeinsame Nenner dieses vielfältigen Engagements?[2] Um welche Expertise handelt es sich?

Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, sind treibende und entscheidungstragende Kräfte der genannten Initiativen. Ihre Erfahrungen in der deutschen Gesellschaft sowie ihre Migrationserfahrung im weitesten Sinn spielen eine wesentliche Rolle in ihrem Engagement. Dadurch verfügen sie über spezifisches Wissen und über Netzwerke, auf die andere nicht zurückgreifen können. Man spricht von (post-)migrantisch-situiertem Wissen. Die Definition dieses Wissens ist situationsabhängig und prozessorientiert: z. B. bei Themen im Bereich Mehrsprachigkeit, Begleitung von internationalen Partnerschaften oder Ausgrenzungen und struktureller Diskriminierung.

Ein zweiter gemeinsamer Aspekt liegt darin, dass (post-)migrantische Akteurinnen und Akteure in ihrem Engagement oft unterschätzt werden. Zum einen besteht eine generelle Defizit-Orientierung über Migration in der Gesellschaft. Dies wirkt sich auf die Wahrnehmung des Engagements aus. Häufig wird es nicht gesehen oder nur als Engagement für die eigene Community betrachtet; der Beitrag für die Gesamtgesellschaft wird weniger wahrgenommen. Zum anderen wird ehrenamtliches Engagement in Deutschland stark mit dem Engagement im klassischen Verein assoziiert, der sich einem Thema widmet. (Post-)migrantisches Engagement ist typischerweise plurifunktional bzw. mehrdimensional: die Organisationen und Initiativen verbinden unterschiedliche Handlungsfelder in ihren Ansätzen (Bildung, Integration, Kultur etc). So werden sie tendenziell dem Integrationsbereich zugeordnet und ihre Expertise in anderen Bereichen wird vernachlässigt. Demzufolge ist das (post)migrantische Engagement in Gremien und Institutionen regelmäßig unterrepräsentiert. Der Zugang zu Förderungen und Professionalisierung ist vielfach erschwert.

Wer eine einfache Definition des post-migrantischen Engagements im Workshop erhofft hatte, wurde zwangsläufig enttäuscht. Die Expertise ist vielfältig, nimmt unterschiedliche Formen an und ist kontextbezogen zu definieren. Sicher ist, dass migrantisch-situiertes Wissen andere Perspektiven in Bezug auf die deutsche Gesellschaft eröffnet. Berücksichtigt man diese Expertise und geht Kooperationen ein, sind die Lösungsansätze inklusiver und nachhaltiger. Es braucht jedoch Zeit und Raum, um die vermeintlich „neuen“ Akteurinnen und Akteure und deren Perspektiven von Anfang an in die Prozesse einzubinden.

Nun hat Deutschland, wie 192 andere Länder, die Agenda 2030 der Vereinten Nationen unterzeichnet und sich verpflichtet, bis 2030 zur Erreichung der 17 Nachhaltigkeitsziele (und ihren zahlreichen Unterzielen) beizutragen[3]. Bei diesem Verständnis von Nachhaltigkeit geht es um ökologische, soziale und ökonomische Dimensionen. Wie Dr. Rajya Karumanchi-Dörsam erklärte, ist das Ziel 17, Partnerschaft auf Augenhöhe, der Dreh- und Angelpunkt für die Erreichung der Agenda 2030 und spielt eine wichtige Rolle bei allen anderen Zielen. In der Einbeziehung (post)migrantischer Expertise liegt gerade hier ein großes Potential. Migrantisch und postmigrantisch Engagierte, die unterschiedliche Bezugsrahmen haben und daran gewöhnt sind, vermeintlichen Normen nicht zu entsprechen, können in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen und mit verschiedenster themenbezogener Expertise dabei helfen, den notwendigen Perspektivwechsel zu schaffen und innovative Ansätze zu entwickeln. Drei Referierende aus der Praxis haben schließlich anhand verschiedener Themen greifbar gemacht, wie Kooperationen vor Ort in den Kommunen aussehen können und welche Chancen sowie Herausforderungen darin liegen. Globales Lernen an Schulen, Dekonstruktion der afrikanischen Bilder und Kooperationen mit Glaubensgemeinschaften zu Themen der Nachhaltigkeit wurden thematisiert. Viele andere Ansätze und Themen sind darüber hinaus denkbar.

 

Warum war es wichtig, das Thema kommunale Entwicklungspolitik bei der Integrationskonferenz aufzugreifen?

Das (post-)migrantische Engagement in den Bereichen Nachhaltigkeit und entwicklungspolitische Bildung wird oft nicht genügend gesehen, anerkannt und einbezogen, obwohl es gerade in Baden-Württemberg sehr dynamisch ist. Dabei brauchen wir als Gesamtgesellschaft diese Expertise, um die Agenda 2030 zu erreichen.

Die Teilnehmenden an der Konferenz waren u. a. Vertreterinnen und Vertreter von Institutionen bzw. der Verwaltung, die Netzwerke vor Ort haben, gut verankert sind und ein hohes Ansehen in deren Kommunen genießen. Viele sind hauptamtlich tätig und nehmen an unterschiedlichen Gremien teil. Selbst wenn sie nicht im Bereich Bildung und Nachhaltigkeit arbeiten, sind sie in der Lage, Türen zu öffnen, Kooperationen in der Kommune mit Verwaltungsstrukturen, Schulen und Institutionen zu unterstützen und die notwendigen Verbindungen herzustellen. Kurz gesagt: Räume zu eröffnen, Sichtbarkeit zu verleihen, eigene Ressourcen zu teilen (sowohl finanzielle Ressourcen als auch Sozialkapital und Netzwerke); diese Arbeit wird immer wieder notwendig sein, bis die Zusammenarbeit mit (post-)migrantischen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren strukturell verankert ist. Eine kooperative Zusammenarbeit kann vor Ort zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen. Doch wer diese Kooperationen hauptsächlich im Bereich Integration verortet, unterschätzt die Wirkung für die Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele. Im Rhein-Neckar-Kreis wollen wir an der Schnittstelle weiterarbeiten, das bestehende entwicklungspolitische Engagement noch sichtbarer zu machen und Kooperationen unterstützen.


[1] Zur Nachlese von Begriffsdefinitionen ist das Glossar der Neuen Medienmacher*innen (NdM) empfehlenswert: https://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/

[2] Siehe u. a. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Studie Vielfältig engagiert - breit vernetzt - partiell eingebunden? Migrantenorganisationen als gestaltende Kraft in der Gesellschaft 2020, Seite 9.

[3] https://www.bmz.de/de/agenda-2030

Isabelle François ist Koordinatorin für kommunale Entwicklungspolitik im Landratsamt Rhein-Neckar-Kreis
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