Demokratie aufbauen: Vor 80 Jahren in Murrhardt
Wenige Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 saßen in einem Nebenzimmer eines Gasthauses in Murrhardt im heutigen Rems-Murr-Kreis eng gedrängt etwa 15 Landräte aus Nordwürttemberg zusammen mit einigen Begleitern sowie einem als Aufseher fungierenden amerikanischen Offizier. Dieses Treffen am 20. Juni 1945 ist heute bekannt als „Murrhardter Landrätekonferenz“ und gilt als das erste Sprießen der Demokratie im Südwesten nach Kriegsende. Selbst der amerikanische Beobachter vor Ort, der deutsch sprechende Offizier Alfred Bingham, sprach später in diesem Zusammenhang von „the first planting of democracy“.
„Gestatten Sie es (…) mir, daß ich kurz an dem 20. Juni 1945 verweile. Dieser Tag war tatsächlich die Wiege einer neuen Landesregierung, nachdem die oberste Spitze, das Reich, und die obere Spitze, nämlich das Land Württemberg, als Staat nicht mehr existierte. Drei Tage später wurden wir zu dem Gebietskommandanten bestellt, welcher dieses first sprouting of democracy, dieses erste Sprießen der Demokratie, ermuntern wollte. Es führt von dort ein gerader Weg zu Regierung und Landtag.“
Reinhold Maier (1950)
Es ist kein Zufall, dass die ersten Schritte hin zu unserer heutigen Demokratie auf kommunaler Ebene gegangen wurden: Die staatliche Verwaltung war nach Kriegsende zusammengebrochen, die Kommunikations- wie auch die Verkehrswege unterbrochen oder vollständig zerstört, die Probleme der Bevölkerung vor Ort waren akut. Viele Kommunalpolitiker und ihre Verwaltungen waren in dieser Notsituation auf sich allein gestellt und mussten grundlegende Ressourcen wie Kohle, Treibstoff, Nahrungsmittel und Baumaterial beschaffen sowie zerstörte Infrastruktur wie Verkehrsverbindungen, Elektrizität und Wasserversorgung wieder aufbauen. Die Folgen des Krieges mussten vor Ort beseitigt und Lösungen gefunden werden.
Bei der Versammlung der Landräte in Murrhardt gab es keine Tagesordnung. Offizielles Thema des Treffens war die Arbeitsbeschaffung. Politische Versammlungen mit anderen Inhalten hätten so kurz nach Kriegsende gar nicht oder nur unter sehr strengen Auflagen stattfinden können. Tatsächlich waren aber die besprochenen Themen vielfältig. Wichtig an diesem Tag im Gasthaus Sonne-Post in Murrhardt war an erster Stelle der Austausch. Es folgte die Erkenntnis, dass alle Verantwortlichen vor ähnlichen Problemen standen und dass man diese im kommunalen Miteinander besser lösen könne. Alle Beteiligten kamen zu Wort, es entstand ein vertrauensvolles Miteinander, man vernetzte sich und konnte gemeinsam und lösungsorientiert die Not- und Krisensituation, dort wo sie am drängendsten war, besprechen.
Demokratie wagen: Von der Kommunal- zur Landespolitik
Der Prozess des Demokratieaufbaus nahm infolge der Murrhardter Landrätekonferenz schnell Form an – auch aufgrund der drängenden Probleme vor Ort.
Die Murrhardter Landrätekonferenz war unter den gegebenen Voraussetzungen ein großer Erfolg für die Beteiligten und damit auch der Auftakt für weitere Versammlungen auf Landkreisebene. Zudem gelang es den Kommunalpolitikern, den anwesenden Offizier Bingham davon zu überzeugen, dass die Versammlung demokratischen Werten folgte und somit eine Weiterführung des Prozesses seitens amerikanischer Militärregierung nicht zu beanstanden wäre. Ohne diesen Zuspruch von Bingham und seinem Vorgesetzten, Oberst William Dawson, sowie dem gegenseitigen offenen und transparenten Umgang miteinander, wäre es vermutlich nicht möglich gewesen, so kurz nach Kriegsende den Prozess des Demokratie- und Verwaltungsaufbaus auf kommunaler Ebene zu starten.
"Demokratie ist kein Zustand, Demokratie ist ein Prozeß"
Helmut Schmidt
Die gemeinsame Arbeit wurde vier Wochen später in Schwäbisch Gmünd fortgesetzt. Schon in dieser zweiten Konferenz wurden Vorträge zu spezifischen Herausforderungen vor Ort wie beispielsweise Arbeitsvermittlung, Arbeitslosen- und Sozialfürsorge, Verkehrsfragen und Richtlinien für Verwaltungen gehalten.
Im Laufe der weiteren Versammlungen erweiterte sich der Kreis der Teilnehmenden. Nicht nur Vertreter der Kommunen, sondern auch Personen aus Industrie, Handwerk, Landwirtschaft, Gewerkschaften, Hochschulen und Kirchen nahmen teil. Bei der Landrätekonferenz im November 1945 in Schnait (heute Teilort von Weinstadt im Rems-Murr-Kreis) war zum ersten Mal auch Nordbaden vertreten. Die amerikanische Besatzungszone und das kurz darauf daraus hervorgegangene Land Württemberg-Baden (1945 bis zur Gründung von Baden-Württemberg 1952) zeichneten sich hier bereits ab.
Reinhold Maier, späterer Ministerpräsident von Baden-Württemberg, nahm bei der Versammlung in Murrhardt als Berater des Schwäbisch Gmünder Landrats teil. Er nahm von Beginn an eine prägende Rolle ein. Die Vertreter der Militärregierung vor Ort standen im engen Austausch mit ihm und übertrugen ihm schnell verantwortungsvolle Aufgaben. So überrascht es nicht, dass Maier Regierungschef der im September 1945 von den Amerikanern neu eingesetzten zivilen Regierung des neu gegründeten Landes Württemberg-Baden wurde. Bereits im Dezember 1945 wurde eine vorläufige Volksvertretung beratend an die Seite der Regierung gestellt, aus welcher im Juni 1946 in freier Wahl die verfassungsgebende Landesversammlung von Württemberg-Baden hervorging. Im selben Jahr trat das erarbeitete Verfassungswerk als erste Landesverfassung nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland in Kraft. Über die Verfassung wurde 1946 in einer Volksabstimmung zeitgleich mit der ersten Wahl zum Landtag von Württemberg-Baden abgestimmt. Über 70% der Bevölkerung nutzen 1946 ihr Recht auf Stimmabgabe und Mitwirkung bei diesem demokratischen Prozess.
Dabei nahmen zwei der heute bekanntesten Teilnehmer der Murrhardter Landrätekonferenz eine tragende Rolle ein. Wilhelm Keil, welcher den Ludwigsburger Landrat in Murrhardt begleitet hatte, leitete als Alterspräsident die erste Sitzung der verfassungsgebenden Landesversammlung und wurde später auch Landtagspräsident. Reinhold Maier wurde in seinem Amt als Ministerpräsident bestätigt und führte seine Allparteienregierung fort.
Demokratie leben: Erinnerungskultur vor Ort
Die Bedeutung der Kommunalpolitik für den Wiederaufbau im Südwesten, sei es hinsichtlich Verwaltungsstrukturen oder auch im Bereich Infrastruktur und Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und anderen Ressourcen, geht deutlich aus den Berichten der direkten Nachkriegszeit hervor. Das fragile Pflänzchen der Demokratie wurde in den Kommunen gesetzt und konnte dort Wurzeln schlagen – bis hin zur Etablierung von Strukturen auf staatlicher Ebene. Der Einsatz und der Wille der beteiligten Personen in einer desaströsen und trostlosen Situation voranzugehen und die Herausforderungen anzunehmen, macht Mut und kann inspirieren.
„Nach meiner Erfahrung wird Demokratie am besten in den Gemeinden gelehrt, weil dort die praktische Arbeit und das Ergebnis einer Abstimmung unmittelbar sichtbar wird.“
Konrad Adenauer
2025 blicken wir nicht nur auf 80 Jahre Landrätekonferenz in Murrhardt, sondern auch auf 80 Jahre Kriegsende zurück. Im Umkehrschluss: Seit 80 Jahren leben wir in einer Demokratie, die uns Frieden, Freiheit und Wohlstand ermöglicht und sichert. Betrachtet man die trostlose Situation der Protagonisten bei Kriegsende sowie den Weg, der die letzten 80 Jahre gegangen wurde und unsere heutige gesellschaftliche Situation, so wird deutlich, warum es wichtig ist, dieses Jubiläum zu feiern.
Um diesen demokratischen Meilenstein zu würdigen, wurde vom Landkreistag Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit Institutionen und Kommunen vor Ort ein Kurzfilm gedreht.
Neben dem Präsidium des Landkreistages, dem Rems-Murr-Kreis und der Stadt Murrhardt war auch das Carl-Schweizer-Museum in Murrhardt beteiligt. Christian Schweizer, Leiter des privat geführten Carl-Schweizer-Museums in Murrhardt, gilt vor Ort als Kenner der Regionalgeschichte und hat sich vor allem auf die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in und um Murrhardt spezialisiert. Er forscht unter anderem zum NS-Widerstand und zu Verflechtungen bekannter Persönlichkeiten mit der Ortsgeschichte in Murrhardt.
Erinnerungskultur lebt davon, dass sie auf kommunaler und staatlicher Ebene gefördert wird und dass es engagierte Menschen gibt, die sich vor Ort um unsere Geschichte und um die Erhaltung und Vermittlung dieser verdient machen. Sei es privat, im Verein oder in politischen Gremien. Geschichte wird am authentischen Ort erlebbar. Es gilt diese Orte zu erhalten, zu fördern und sie der Allgemeinheit und breiten Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Erinnerungskultur und authentische Orte haben das Vermögen, unsere Gesellschaft zu stärken, indem sie einen Rückblick in unsere Vergangenheit bieten und Identität schaffen. Somit leistet die Erinnerungskultur einen wertvollen Beitrag für unsere Demokratie.
Demokratie stärken: Wir alle sind gefragt
Der Begriff Graswurzeldemokratie begleitete Reinhold Maier nach der Landrätekonferenz in Murrhardt durch seine politische Karriere. Noch heute wird er damit in Verbindung gebracht. Unter dem Begriff versteht man eine Demokratie von unten, auch aus der Bevölkerung heraus, die umso besser wächst und gedeiht, je mehr Bürgerinnen und Bürger sich aktiv beteiligen.
„Wahlen allein machen noch keine Demokratie“
Barack Obama
Die Landrätekonferenz hatte in einer Situation großer Krise und Not mit ihren Beteiligten einen erfolgreichen Kurs eingeschlagen. In ihr waren unter Druck nachhaltige Entscheidungen getroffen sowie entscheidende demokratische Grundsteine gelegt worden. Innerhalb eines Jahres fanden allgemeine und freie Wahlen statt, welche eine Politik auf übergeordneter Ebene überhaupt erst wieder ermöglichte.
Obwohl das zarte Pflänzchen der Demokratie nach 80 Jahren zu einem starken und stabilen Baum gewachsen ist, steht diese von innen und außen zunehmend unter Druck. Immer weniger Menschen können als Zeugen aus einer Zeit fungieren, die uns von den schrecklichen Ereignissen im Zweiten Weltkrieg und von den Gräueltaten der Nationalsozialisten, aber auch von der Not der Zivilbevölkerung und dem allgemeinen Schrecken des Krieges und seinen Folgen aus eigenen Erfahrungen berichten können. Die Zeitzeugen verstummen nach und nach. Umso wichtiger und bedeutender ist die Erinnerungskultur, deren Aufgabe es ist, aufzuklären und den Finger immer wieder in die Wunde zu legen. Die Erinnerungskultur vermag es, die Stimmen der Zeitzeugen für kommende Generationen zu erhalten.
„Demokratie, das sind wir alle. Jeder soll erfahren, dass es auf ihn ankommt“
Horst Köhler
Demokratie und deren Stärkung ist nicht nur Aufgabe von gewählten Gremien. Eine demokratische Gesellschaft lebt von der Beteiligung des Einzelnen. Jede und jeder kann in der eigenen Gemeinde, in der Gesellschaft, in der Nachbarschaft einen Unterschied machen und sich einbringen. Sei dies bei einem Ehrenamt oder in einem politischen Amt. Jedes Engagement in einem Verein, im Gemeinderat, bei Wahlen, in der Feuerwehr, beim Roten Kreuz stärkt die Gesellschaft. Jedes Engagement des Einzelnen baut Brücken, sorgt für Zusammenhalt und stärkt damit unsere Demokratie im Großen und im Kleinen. In den Kommunen spüren Bürgerinnen und Bürger demokratisches Handeln am direktesten. Kommunalpolitik und kommunalem Zusammenhalt kommen deshalb eine besonders hohe Bedeutung in der Förderung und Stärkung unserer Demokratie zu. Ihnen obliegt die anspruchsvolle Aufgabe, mit wenigen Mitteln und mit beschränkten Möglichkeiten vor Ort das Vertrauen in die Politik und damit in die Demokratie zu stärken. Dabei benötigen sie die Unterstützung der kommunalen Familie, aber auch durch das föderale System in Deutschland.
Literatur- und Quellenhinweise
HStAS Q 1/4 Bü 7.
HStAS Q 1/8 Bü 30 und Bü 31.