80 Jahre Murrhardter Landrätekonferenz

Ein zeitgeschichtlicher Rückblick in die Zukunft?

Das Interview mit Herrn Christian Schweizer, Leiter des Carl-Schweizer-Museums in Murrhardt, anlässlich des 80jährigen Jubiläums der Murrhardter Landrätekonferenz vom 20. Juni 1945.
Christian Schweizer · Carl-Schweizer-Museum Murrhardt · 20. Juni 2025
©

Guten Tag Herr Christian Schweizer. Wir erinnern heute an die Landrätekonferenz in Murrhardt, welche vor 80 Jahren stattgefunden hat. Sie kennen sich als Museumsleiter des Carl-Schweizer-Museums in Murrhardt sehr gut mit der dortigen Heimatgeschichte aus und haben sich bereits intensiv mit dem Thema befasst und recherchieren auch weiterhin zu Quellen aus der direkten Nachkriegszeit. Vielen Dank, dass Sie für dieses Interview hier in Murrhardt zur Verfügung stehen.
Sie sind Jahrgang 1965 – somit begleiten Sie die Auswirkungen dieses historischen Ereignisses schon Ihr ganzes Leben, als Murrhardter, aber auch Bürger unseres Landes. Welche Bedeutung spielt für Sie dieses Treffen in der Geschichte oder gar in der Zukunft?

80 Jahre sind seit diesem Ereignis mit besonderer politischer Tragweite für unsere Demokratie, Republik und Gesellschaft vergangen. Der 20. Juni 1945 war der Tag, an dem der erste, mutige Schritt zum demokratischen Neubeginn in Deutschland gewagt wurde. Der Zweite Weltkrieg war für Murrhardt schon am „historischen Datum“ des 20. April 1945 beendet. Es war ein kleiner, aber fester und sicherer Schritt in ein nahezu unwegsames Gelände, mit dem die Entwicklung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Deutschland begann!

Dazu waren die richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gefordert und fähig. Eine komplexe Fügung ermöglichte das Gelingen dieses Experimentes in Murrhardt, heute im Rems-Murr-Kreis. Beachten wir, am 8. Mai 1945 kapitulierte die Wehrmacht und etwas mehr als 40 Tage danach kommen bereits einige erste Demokraten in dem politisch und strukturell zerstörten Land, genauer in Württemberg, zusammen. Die Geschichtsschreibung spricht von der „Murrhardter Landrätekonferenz“.

 

Welche Persönlichkeiten nahmen an dieser teil und warum? Bekannt sind ja vor allem Reinhold Maier und Wilhelm Keil, aber es waren ja noch weitere bemerkenswerte Persönlichkeiten anwesend?

Diese Frage ist sehr wichtig, werden doch immer nur wenige Namen der Initiatoren genannt, so von Reinhold Maier(späterer Ministerpräsident) und Wilhelm Keil (späterer Landtagspräsident). Der offiziell einladende Initiator war Landrat Albert Rienhardt aus Backnang. Doch ohne das Office of Military Government for Wuerttemberg-Baden (OMGWB), im Folgenden spreche ich von der  US-Militärregierung in Württemberg-Baden - , war dies nicht möglich. Der Historiker Michael Kitzing hat in der Publikation des Landkreistags zum 75-jährigen Gedenken des Treffens dazu aufgerufen, die Protagonisten genauer zu erforschen: Es waren immerhin 25 Personen.

Fakt ist, dass der US-Offizier Captain Alfred Mitchell Bingham den Auftrag hatte, gezielt Kontakt zu Reinhold Maier in Schwäbisch Gmünd aufzunehmen. Auch die anderen Teilnehmer, meist aus Kreis- und Kommunalverwaltungen, waren nicht zufällig dazu berufen.

Bei näherer Betrachtung lassen sich Netzwerke privater Art um Reinhold Maier aus der württembergischen Innenverwaltung der Weimarer Zeit,  sowie aus dem späteren  NS-Widerstand, deutlich erkennen. Diese Personen sind alle nur mit Genehmigung der US-Militärverwaltung in ihre Funktionen gekommen oder darin belassen worden. Die meisten kannten sich schon seit Studentenzeiten, aus der Zeit vor der NS-Gewaltherrschaft, und vertrauten einander, es gab eine gemeinsame Basis und verschiedene Aspekte über regionale, auch internationale Verbindungen hinweg.

Die beiden ehemaligen Minister Reinhold Maier und Wilhelm Keil nahmen Führungsrollen ein und konnten den Verlauf der Konferenzen entscheidend prägen und gestalten. Sie fanden trotz ihrer Verfolgung während der NS-Zeit dazu Kraft und Gestaltungswillen.

 


Warum fand die Landrätekonferenz in Murrhardt statt und was war an der Veranstaltung besonders? Lag das an der Zerstörung infolge des Krieges?

Weshalb gerade Murrhardt? Es war nicht der nach Kriegsende noch gut gefüllte Weinkeller des bekannten Murrhardter Gasthofs Sonne-Post, der sich anbot. Es war die Tatsache, dass Stuttgart noch nicht in Händen der US-Amerikaner, sondern von den Franzosen besetzt war. Weiterhin waren das württembergische Innenministerium und Finanzministerium schon ab 1943 nach Murrhardt ausgelagert und in Sicherheit gebracht worden, ebenso die Verwaltung der ehemaligen NS-Gauleitung Württemberg-Hohenzollern. Somit waren für die Aufarbeitung Akten, mehr oder weniger belastete Menschen, jedoch Fachleute hier im Zentrum des Schwäbisch-Fränkischen Waldes. Günstig war auch die immerhin aus Waiblingen, Ludwigsburg, Heilbronn über Schwäbisch Hall sowie aus dem Raum Aalen noch funktionierenden Bahnverbindungen und Straßen.

Wesentlich ist jedoch ein anderer Aspekt: Dieses Treffen war kein Zufall, sondern Teil eines schon ab 1942 gefassten, klaren Planes der US-Militäradministration der ECAD (European Civil Affairs Division), allerdings nicht mit schon feststehendem Ergebnis und daher mit einem politischen Risiko verbunden. Es war nicht die Initiative einiger ehemaliger Lokalpatrioten mit liberaldemokratischem Geist, sondern wertvolles Ergebnis des beiderseitigen Vertrauens zwischen diesen politikerfahrenen Deutschen und der skeptischen US-Militäradministration.

Die Demokratie in Westdeutschland war und ist nicht nur ein Geschenk der Siegermächte, sondern Errungenschaft aus der blutigen, schrecklichen Konsequenz der politischen Vorkriegserfahrungen einiger wirklicher Helden, Vorbilder unseres Landes. Sie ist Verpflichtung gegenüber uns selbst und unseren nachfolgenden Generationen sowie der Völkergemeinschaft.

Bemerkenswert: Durch die Entwicklung der Besatzungszonen, dem Streit der Amerikaner mit den Franzosen infolge der Grenzziehung zwischen den Zonen und der nachfolgenden Besetzung der Städte Stuttgart und Karlsruhe, war mit dem Zuschnitt der Zone Württemberg-Baden eigentlich schon eine gewisse Entwicklung hin zur Gründung eines Südweststaats, dem späteren Baden-Württemberg, vorbestimmt. Die Militärregierung legte in Abstimmung mit den Siegermächten in der Folge auch die Basis zur regionalen Entwicklung. Maßgeblich waren dabei der Chef der Militärverwaltung Colonel William W. Dawson, ein polyglotter, umsichtiger Freund der deutschen Kultur, Staatsrechtler und Verwaltungsfachmann, sowie sein Ressortleiter im „Labour Service“, also der Abteilung für Arbeitsorganisation und Wirtschaftsfragen, und „Beobachter“ der Murrhardter Konferenz, Captain Alfred M. Bingham.

 

Wer war Alfred Bingham?

Alfred Mitchell Bingham ist ein in der deutschen Historiographie völlig vernachlässigte Persönlichkeit, Politiker und Offizier, der zugleich in den USA als schillernde Persönlichkeit bekannt  ist. Er stammte aus bester US-Familie im Staat Connecticut, erhielt eine hervorragende Ausbildung im Staats- und Arbeitsrecht, war Rechtsanwalt, erfahrener Weltenbummler und Korrespondent, Regionalpolitiker und Mitglied im Senat seines Bundesstaats. Vernetzt in den Kreisen der Politik und Diplomatie, kam er nicht zufällig in seine Funktion nach Schwäbisch Gmünd und damit nach Murrhardt. Seine Vita von vor und nach dem Zweiten Weltkrieg sprengt den Rahmen dieses Interviews. Soviel ist aber klar: Die Amerikaner und damit auch Bingham arbeiteten bereits vor der Invasion in der Normandie Anfang Juni 1944 präventiv an eineNachkriegskonzept für Deutschland. Es gibt Indizien dafür, dass Kontakte der NS-Widerstandsgruppe um Robert Bosch zu Binghams Bruder Hiram IV (Diplomat in Frankreich) bereits während der deutschen Besatzung Frankreichs bestanden. Weiter über die Résistance und jüdische Flüchtlingsorganisationen, bereits Anfang 1941 über Otto Hirsch zur Reichsvertretung Deutscher Juden, sowie zur HIAS, (Hebrew Immigrant Aid Society), und zum Leiter des für Württemberg zuständigen US-Nachrichtendienstes, Moses Moskowitz, vormals Generalsekretär der CCJO, (Vereinigung der jüdischen Flüchtlingsorganisationen) bis hin zu Reinhold Maier.

 

Welche Inhalte wurden damals in Murrhardt besprochen und welche Maßnahmen folgten daraus?

Die Zeitzeugen berichten unisono, dass es keine Tageordnung zu dem Treffen gab. Jeder der Anwesenden konnte in freier, demokratischer Manier seine wichtigen Anliegen vortragen. Dies ist nicht ganz korrekt, es gab ein Stichwort: „Labour“, sprich Arbeit und Arbeitsbeschaffung. Grund war die Abgrenzung der Zuständigkeiten innerhalb der US-Militärverwaltung. Um formale Probleme zu umgehen, fasste man die Fragen der Arbeitslosigkeit und der Inneren Sicherheit zusammen, da die US- Militäradministration Aufruhr von arbeitslosen und hungernden Menschen befürchtete. Konkret besprachen die Teilnehmer Fragen der Arbeits- und Materialbeschaffung, des Transportwesens, der Verkehrsmittel und der Verkehrswege. Ebenso unter demselben Oberbegriff Fragen der Landwirtschaft, Lebensmittelversorgung und notwendigen Finanzierung oder des Tauschhandels. Die Murrhardter „Konferenz“ war einerseits ein politischer „Versuch“, andererseits durften damals keine politischen Veranstaltungen, schon gleich gar nicht mit deutscher Beteiligung stattfinden, - organisatorische Absprachen schon! Ein weiterer Schwerpunkt war die Frage nach der politischen Zuverlässigkeit der Arbeiter auch in den Verwaltungen, man sprach über den konsequenten Umgang mit Leuten, die eindeutig Nationalsozialistenwaren. Die Militärverwaltung war sich darüber noch nicht bis in Details im Klaren, wie mit diesen Leuten zu verfahren war. Als Ergebnis wurde der feste Wille zur weiteren, gemeinsamen Zusammenarbeit festgestellt.

Weitere Landrätekonferenzen fanden am 11. Juli 1945 in Schwäbisch Gmünd, am 15. August 1945 in Ludwigsburg, am 10. Oktober 1945 in Bad Boll und 21. November 1945 in Schnait statt. Bei der Konferenz in Schnait waren erstmals auch Vertreter aus dem nordbadischen Landesteil anwesend.

 

Welches Ergebnis wurde dann in diesen nachfolgenden Besprechungen erarbeitet und erzielt?

Die Folge: Am 7. August 1945 besuchte eine Offiziersdelegation der US-Militärregierung Reinhold Maier in Schwäbisch Gmünd und bot ihm im Auftrag von Colonel William W. Dawson den Posten des Ministerpräsidenten im noch zu bildenden Land Württemberg-Baden an. Innerhalb einer Woche legte Maier seine Ministerliste Colonel Dawson vor. Sie bestand lediglich aus Württembergern. Zum Hintergrund: Maier richtete sich gegen die geplante, endgültige Teilung von Nord- und Südwürttemberg. Er hatte seine rein württembergische Ministerliste mit der Absicht zusammengestellt, dass sie eines Tages tatsächlich auch für ganz Württemberg gelten würde. Am 14. September 1945 bestätigte General Dwight D. Eisenhower, gegen die Einsprüche aus Baden, die neue Landesregierung. Am 10. Januar 1946 erließ die Militärregierung ein Gesetz, das die Einberufung einer Vorläufigen Volksvertretung anordnete, die die Landrätekonferenz ablöste. Die Vorläufige Volksvertretung hatte lediglich eine beratende Funktion; ihre Beschlüsse hatten für die von der Militärregierung eingesetzte zivile Staatsregierung unter Ministerpräsident Reinhold Maier den Charakter von Empfehlungen. Die Vorläufige Volksvertretung wurde durch die am 30. Juni 1946 in freier, geheimer und demokratischer Wahl gewählte Verfassunggebende Landesversammlung abgelöst. Es war eine der ersten Wahlen in Deutschland nach 1945.

Christian Schweizer, Leiter des Carl-Schweizer-Museums
Christian Schweizer, Leiter des Carl-Schweizer-Museums
©

Die Landrätekonferenz jährt sich nun zum 80. Mal. Warum ist es so wichtig, an dieses Ereignis zu erinnern und sich die Entwicklung bewusst zu machen ?

Wilhelm Keil beschreibt in einem seiner Beiträge zur Murrhardter Landrätekonferenz nicht nur die Tatsache, dass dieses Treffen das Saatkorn für einen Neubeginn der parlamentarischen Arbeit war, ebenso einer neuen Exekutive, sondern auch des Föderalismus‘ und unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Murrhardt war der erste Knoten eines bis heute aktiven Netzes. Keil beschrieb in einer Rede vom 20. Juni 1950 den Weg der Demokratie von Murrhardt nach Bonn, der nach der deutschen Wiedervereinigung seine historische Fortsetzung nach Berlin fand, und weiterführt ins transatlantische Bündnis und die europäische Staatengemeinschaft. Tatsächlich geht es hierbei um die „staatspolitische Tradition“, die Fortführung der in Murrhardt begonnen, so unbefangen, selbstverständlich gelebten Demokratie. Es geht aber auch im die Personen die sich mit dieser Idee so identifizierten. Bedeutende Persönlichkeiten wurden von diesem basisdemokratischen Geist geprägt. Nein, es ist kein überbordender Lokalpatriotismus, aus der Kernregion zwischen Schwäbisch Gmünd und Backnang sind im Laufe der letzten 80 Jahre besonders viele bedeutende Politikerinnen und Politiker, ob auf Landes- oder Bundesebene stetig hervorgegangen. Einerseits die lokale Verankerung, Bürgernähe und gleichsam weiten, bundespolitischen und europäischen Geist zu leben, scheint schon den Württembergern besonders zu liegen.

Ebenso nimmt Reinhold Maier das Thema auf: Seine Ausführungen zur demokratischen Kultur in den USA als Vorbild und Fundament für Deutschland lesen sich dieser Tage wie ein Legende aus alten Tagen. Sie geben heute Gewissheit über die aktuellen politischen Verwerfungen, die gerade die Vereinigten Staaten heimsuchen. Die damalige Doktrin der US-Außenpolitik hat sich seit 1955 im Vergleich zu heute, 2025, massiv verändert. Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika pendelt traditionell zwischen zwei gegensätzlichen Strategien, dem Isolationismus und dem Internationalismus, diese richtet sich primär an den ureigenen innenpolitischen, sprich wirtschaftlichen und finanziellen Interessen aus, ein Eigeninteresse, dem alles andere nachgeordnet wurde und wird. Weiterhin zitiert Keil einen Revolutionär, der eindringlich vor den Gefahren Russlands und dessen Machtwahn warnte: Es war, man glaubt es kaum, Karl Marx, der schon früh, dieses für uns heute wieder relevante  Problem erkannte.

 

Die Murrhardter Landrätekonferenz kann also als demokratischer Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg für den Südwesten verstanden werden.

Von Murrhardt ging eindeutig ein Impuls aus, dessen Wurzeln sich jedoch schon 100 Jahre zuvor entfalteten und junge feste Triebe hervorbrachten. Sei es die Revolution 1848 mit Ferdinand Nägele in der Frankfurter Nationalversammlung, die 1912 hier erfolgte Nominierung und erste politische Aktivität von Theodor Heuss, der auch 1946 und 1949 in Murrhardt weilte, sowie das verschwiegene Netzwerk einiger Demokraten im NS-Widerstand von Stuttgart bis nach Paris und Berlin. Infolge der Murrhardter Landrätekonferenz fanden weitere Treffen statt, woraus sich Verwaltungsebenen entwickelten, die zur Gründung des Landes Württemberg-Baden und vier Jahre später dann auch zur Bundesrepublik Deutschland führten.

 

Was verstehen Sie unter Graswurzeldemokratie und warum begegnet uns der Begriff in Zusammenhang mit der Landrätekonferenz in Murrhardt?

Demokratie heißt: Alle Macht geht vom Volke aus! Volksherrschaft wird von unten nach oben organisiert, das muss uns heute wieder klar werden. Das Subsidiaritätsprinzip ist die ultimative Grundlage unseres Staatrechtes, der Gesellschaft und damit auch die Pflicht jedes einzelnen Menschen in unserer Gesellschaft, sich einzubringen, in und für dieses erfolgreiche System zu wirken. Es sind wir, die Menschen, Einheimische und Migranten, solche und andere, die diesen demokratischen Staat tragen. Wahlen sind eine Säule, Kandidatinnen und Kandidaten unerlässlich. Wichtig ist aber die Bildung, die Einsicht, das Wissen der Mitgestaltung und Mitverantwortung auf allen Ebenen, beginnend von der Familie, über Bürgerbeteiligungen, Vereine, kommunale und regionale Politik, bis hinauf in die Ebenen der EU. Es sind nicht „die da oben“, sondern wir hier an der Basis. Die Mitwirkung des Einzelnen ist entscheidend, sich selbst einbringen, ob als Gemeinde- oder Kreisrat, als Parteimitglied oder freier Geist. Es kommt darauf an, wen wir nominieren und dann wählen: Hier müssen wir das Gras wachsen hören, uns auf den gesunden und festen Boden der Demokratie stellen, dann gedeihen die Graswurzeln, ohne „ins Kraut“ zu schießen. Dies bedingt aber auch ein klares Verhältnis der Politik zur Gewaltenteilung in einer Demokratie.

In Murrhardt waren es Menschen mit fester Überzeugung und klarer Sprache, nicht ohne Kritik und auch Härte, aber ohne „Fake-News“, die mit gegenseitigem Vertrauen die drängenden Probleme und Sachfragen gemeinsam zu einer Lösung brachten und nicht Ideologie und Vorschriften in den Vordergrund stellten. Dies wirkte und wirkt sich auch auf die Verwaltungen aus, die einen klaren Handlungsrahmen benötigen, aber keinen politisch-juristisch komplexen Vorschriftendschungel, der Eigenverantwortung und zielorientiertes Handeln behindert und durch mangelndes Vertrauen und Kompetenzgerangel ersetzt. Damit wird die Demokratie beliebig, unfähig und gelähmt. Genau dieses Problem veranlasste die US-Militärverwaltung schnell den Kontakt zu erfahrenen und zuverlässigen deutschen Beratern zu suchen und damit mit einem überschaubaren „Versuch“ in Sachen Demokratie, eine Lösung zu finden.  Also: „Back to the roots“! Oberst William Dawson bezeichnete die Murrhardter Landrätekonferenz als „the first sprouting of democracy in Germany – das erste Sprießen der Demokratie in Deutschland“.

 

Warum ist das Thema heute noch so wichtig, wie können sich Einzelne einbringen?

Der römische Poet Horaz sagte: „Was die Herrscher freveln – büßen die Bürger“, ein Spruch, den Reinhold Maier öfter zitierte. Müssen wir diesen aktuell umkehren? Man hat beinahe den Eindruck einer verkehrten Welt. Wir benötigen eine lebendige und wehrhafte Demokratie, möglichst auf vielen Ebenen und im föderalen System. Zentralismus ist leicht angreif- und zerstörbar. Eine föderale Demokratie dagegen ist resilient, insbesondere gegenüber demokratiegefährdenden Aktionen wie die der „Reichsbürger“ um Heinrich Prinz Reuß, oder auch putinistischen und vielleicht auch trumpistischen Angriffen. Eine föderale, parlamentarische Struktur in 16 Bundesländern ist gegenüber einem zentralen Putsch im Bundestag, oder Regierung und Bundesrat, doch recht widerstandsfähig. Vielleicht ist sogar der „Geist von Murrhardt“ mit all seiner Entwicklung der zukunftsfähige „Exportartikel“ Deutschlands und Westeuropas, auch als Reimport zurück in die USA.

Die Demokratie beginnt schon in der Familie, weiter dem sozialen Engagement unter Freunden und in Vereinen, bis hin zur kommunalen Selbstverwaltung. Respekt und der Wille zur gemeinsamen Problemlösung sind der Ansatz für eine lebendige, demokratische Politikkultur. Über diese familiäre und örtliche Ebene hinaus benötigt die Demokratie neben Stadträten und Kreistagen auch verbindende regionale Arbeitsgemeinschaften. Der Landkreistag Baden-Württemberg erfüllt mit seinen Organisationen, seinen Organen der Landrätekonferenz, der Landkreisversammlung, seinen Fachausschüssen und Arbeitsgemeinschaften, als kommunaler Landesverband diese Aufgabe. Wesentlich sind dabei der Selbstverwaltungsgedanke und die Wahrung der verfassungsgemäßen Rechte seiner Mitglieder, bzw. diese gegenüber Land und Bund aber auch zu Städten und Gemeinden hin zu vertreten. Gerade der Erfahrungsaustausch in Fragen von Organisation und Wirtschaftlichkeit, ermöglichen die Beratung der Mitglieder, darüber hinaus der Landesregierung und fördern das Verständnis und Ansehen der Landkreise in der Öffentlichkeit.

 

Was sind die Stärken des Föderalismus und der kommunalen Selbstverwaltung und warum ist das heute noch wichtig?

Wie schon angesprochen, es geht um die Teilung der Verantwortung und Macht, damit um die Übersichtlichkeit, Organisationsfähigkeit und die Kompetenz, Fehler zu korrigieren. Unser dreigliedriges Staatssystem hat sich in den vergangenen 80 Jahren mehrfach Bewährungsproben stellen müssen, so der Währungsreform,  sei es beim Beitritt des Saarlandes 1957, den Studentenunruhen und in den Zeiten des RAF-Terrors, oder speziell 1989/90 beim Fall der Mauer. Die Leistungsbilanz des Systems zeigt gleichsam seine Belastbarkeit, aber auch seine Reformfähigkeit und Weiterentwicklung. Immer wieder wurden von außen oder auch von innen Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit unserer Republik unternommen. Schon Reinhold Maier hatte mit dem Vorwurf und Mythos „überstaatlicher Mächte“ zu kämpfen, die die Murrhardter Landrätekonferenz in ein Zwielicht bringen wollten. Die direkte und verbindliche Art, das klare Wort, werden in der Politik nicht immer gern geduldet und gehört, man muss sich ja bekennen und festlegen. Politischer Erfolg und Basisdemokratie provoziert Reaktionen, Missmut und Unwillen, anderen den Erfolg zu gönnen. Der Weg der Demokratie ist immer der gemeinsame Erfolg, natürlich auch ein Weg, der immer wieder erneuert und gepflegt werden muss. Es bedarf auch neuer Wege, die zum Ziel führen, Mut, unbekanntes Gelände zu betreten und Brücken zu bauen.

Es sind manchmal die Nebenzimmer in kleinen Orten, mit den Worten Reinhold Maiers „die Krippe in Bethlehems Stall“ und nicht das vermeintlich glänzende „Armenhaus eines Land- oder Bundestags“. Der Wille, in Parlamenten und Verwaltungen gemeinsam in Vertrauen und Respekt miteinander und nicht gegeneinander zu agieren, ist echte Demokratie. Folgendem Zitat aus Reinhold Maiers Rede zum Gedenktreffen 1955 möchte ich mich anschließen: „Demokratie mag, von einzelnen Vorkommnissen aus beurteilt, hie und da als Schwäche sich entpuppen. In der Gesamtheit der soziologischen und politischen Vorgänge stellt die Demokratie eine gewaltige volksmassige Kraft dar.“ Diese Erkenntnis ist für die Zukunft wichtig!

 

Welche neuen historischen Erkenntnisse wurden in den letzten Jahren gewonnen?

Die Forschungen dauern an: Archive, auch internationale, speziell US-Archive und Militärarchive öffnen sich. Sperrfristen die NS-Zeit betreffend sind überwiegend abgelaufen, personenbezogene Akten stehen erst seit Kurzem zur wissenschaftlichen Auswertung bereit. Wobei nicht nur der wissenschaftlichen Arbeit, diese Originalquellen sind jedermann zugänglich. Archive sichern mit ihren Quellen, Berichten, Protokollen, Verträgen usw. das rechtsstaatliche Handeln und erlauben immer wieder die Prüfung und Überprüfung von politischen Maßnahmen und Beschlüssen, von Regierungen, Verwaltungen und Parlamenten oder auch den Gemeinde- und Ortschaftsräten. Weiterhin von Organisationen und Personen der Zeitgeschichte.

Bei den in Murrhardt aktiven Personen lässt sich der Kreis der Deutschen in eine große Gruppe einteilen, die schon vor der NS-Zeit Erfahrung und Vertrauen in einer, wenn auch labilen, Demokratie sammeln konnte. Speziell in der Innen- und Finanzverwaltung des alten Landes Württemberg, den wirtschaftlichen und finanzpolitischen Gremien, Aufsichtsräten rund um die Firma Bosch und damit der südwestdeutschen Netzwerke im NS-Widerstand. Es sind auffallend viele Personen, die sich schon als Studenten in der Verbindung „Stuttgardia“ in Tübingen kennengelernt hatten.

Eine vage, internationale Spur lässt sich, wie schon angedeutet, über die Netzwerke des NS-Widerstands, der verdeckten Hilfe für jüdische Flüchtlinge und deren Organisationen (Gruppe Bosch, Hans Waltz), Banken und Wirtschaft, bis hin zur französischen Résistance und Gruppen in Großbritannien sowie den USA erkennen. Diese Verbindungen und Namen kamen erst jüngst ans Licht, im Rahmen der Forschungen rund um den Berliner/Stuttgarter/Murrhardter Bankier Rudolf Hartmann, Offizier im Stab des Militärbefehlshabers für Frankreich in Paris, sowie zum Stuttgarter/Berliner NS-Widerstandskämpfer Fritz Elsas.

Nur eine ganz kleine Gruppe, wenige Personen, die Anhänger des NS-Regimes waren, sich aber das demokratische Mäntelchen umhängen wollten, nahmen noch an dem ersten Treffen in Murrhardt teil, wurden durch die Entnazifizierungsverfahren jedoch aus dem Kreis entfernt. Dieser bildete als „Vorläufige Verfassungsgebende Versammlung“ den durch Wahlen legitimierten Kern unseres ersten Landesparlaments und der ersten Landesregierung.

Neu sind die vertieften Erkenntnisse zur Vita der beiden US-Protagonisten, William W. Dawson und Alfred M. Bingham, die mit außergewöhnlicher ziviler Verantwortung als Militärs, aber auch als Freunde Europas und Deutschlands agierten, im Bewusstsein, damit ein Bollwerk zu schaffen gegen die Diktatur der ehemaligen Sowjetunion und ihrer Sattelitenstaaten.

Eine klare Erkenntnis ist der Hinweis auf die schon 1946 verabschiedete erste demokratische Verfassung des im selben Jahr gegründeten Bundeslandes Württemberg-Baden. Aus ihr ging 1949 in wesentlichen Teilen unser Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hervor. Theodor Heuss, der sich in den entscheidenden Tagen davor in Murrhardt „zur Erholung“ aufgehalten hatte, wurde Bundespräsident, Reinhold Maier später Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

Zum Schluss möchte ich gerne Theodor Heuss zitieren: „So wie die Freiheit eine Voraussetzung für die Demokratie ist, so schafft mehr Demokratie erst den Raum, in dem Freiheit praktiziert werden kann.“

 

Quellen:

HStAS, Nachlass R. Maier, Q 1/4 Bü 7, Q 1/8 Bü 30 und Q 1/8 Bü 31, umfangreiches Material, Reden zu Erinnerung, und Gedenken an die Murrhardter Landrätekonferenz von Reinhold Maier, Wilhelm Keil, Presseberichte, Berichte Staatsanzeiger usw.

StALB, Findbuch IL 525, Office of Military Government for Wuerttemberg-Baden (OMGWB), Mikrofiches

USA, Columbia University, New York City, Rare Book & Manuscript Library, Nachlass Moses Moskowitz, Monthly Historical Reports, Draft Notes 1945-1946, Chief of Political Intelligence U.S. Military Government for Wuerttemberg-Baden.

Alfred Bingham dies - Once Radical Intellectual in New York Times:
https://www.nytimes.com/1998/11/05/nyregion/alfred-bingham-93-dies-once-radical-intellectual.html

University of Yale, New Haven (Connecticut), Library + Archives, Sammlung: Alfred Mitchell Bingham und die Sammlung Common Sense | Archiv in Yale, MS 148.

Messenger, Robert. Canberra Australia. Oz. Schreibmaschine: Gut betuchter Radikaler an der Schreibmaschine

Internet:  Das Tiffany-Vermögen und andere Chroniken einer Familie aus Connecticut | Alfred M. Bingham | Erster Druck angegeben.

William W. Dawson geb. März 1892 in Ohio, USA. Vater, William C. Dawson, Mutter, Mary E. Nail. Er heiratete Marguerite S. Sague 1929 in Cuyahoga, Ohio, USA. Er lebte 1900 in Ashland, Ashland, Ohio, USA. Er starb am 10. Februar 1947 im Alter von 54 Jahren in Stuttgart, Württemberg, Deutschland.

Intus:1. Report on the activity of Wilhelm Keil, with enclosures. 30. March 46 (clean copy). Internet: Foreign Relations of the United States: Diplomatic Papers, 1945, European Advisory Commission, Österreich, Deutschland, Band III, Dokument 721

Maier, Reinhold: Ein Grundstein wird gelegt, Die Jahre 1945-1947, Hrsg. Rainer Wunderlich, Tübingen 1964

Schöntag, Wilfried: Office of Military Government for Wuerttemberg-Baden, in OMGUS-Handbuch, „Die amerikanische Militärregierung in Deutschland 1945-1949“, Hrsg: Christoph Weisz, München 1996.

Kitzing, Michael: Die Murrhardter Landrätekonferenz vom 20. Juni 1945 und der demokratische Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Schriftenreihe des Landkreistags Baden-Württemberg, Band 38. Stuttgart 2020

Christian Schweizer ist Leiter des Carl-Schweizer-Museums in Murrhardt im Rems-Murr-Kreis
Teilen