Zwar wird der nächstgelegene Urnengang, ganz besonders im europäischen Kontext, seit jeher zur politischen „Schicksalswahl“ erklärt, doch ist es sicher nicht vermessen zu behaupten: Noch nie war die Europäische Union angesichts von weltweiten Krisen und Konflikten derart herausgefordert wie heute. Wie diesen Herausforderungen konkret begegnet wird und die europäischen Weichenstellungen für die Zukunft aussehen – das entscheiden am 9. Juni dieses Jahres auch rund 8,6 Millionen Menschen in Baden-Württemberg bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. Die größte staatenübergreifende Wahl der Welt findet in diesem Jahr wieder zeitgleich mit der Kommunalwahl statt.
Baden-Württemberg liegt im Herzen Europas. Wir sind auf das Engste mit unseren Nachbarn vernetzt. Bereits früh hat sich der Südwesten für die europäische Integration eingesetzt. Das zeigt nicht zuletzt ein Blick in die Präambel unserer Landesverfassung. Darin wird Baden-Württemberg als „lebendiges Glied der Bundesrepublik Deutschland in einem vereinten Europa“ beschrieben, das an „der Schaffung eines Europas der Regionen sowie der Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit“ mitwirkt. Kurzum: Europa ist in Baden-Württemberg Staatsräson.
So verbindet uns heute mit unserem Nachbarn Frankreich nicht nur eine 180 Kilometer lange Grenze, sondern eine enge und freundschaftliche Beziehung. Wo früher nach dem Zweiten Weltkrieg noch Schlagbäume, gegenseitiges Misstrauen und Grenzen den Alltag dominierten, fährt heute beispielsweise die Straßenbahn von Kehl nach Straßburg oder der TGV von Stuttgart nach Paris oder Bordeaux. Die fatale Vorstellung des französischen „Erbfeinds“ gehört heute glücklicherweise der Vergangenheit an.
Als uns etwa auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie die schrecklichen Bilder aus den Krankenhäusern im Elsass erreichten, stand es für Baden-Württemberg deshalb außer Frage, dass wir unseren Freundinnen und Freunden jenseits der Grenze zur Hilfe kommen und Patientinnen und Patienten aus deren Kliniken bei uns im Land aufnehmen. Es ist diese gemeinsame Solidarität, die für mich das Fundament Europas bildet. Dafür lohnt es sich zu kämpfen – ganz besonders in Zeiten von Aggressionen und Großmachtfantasien so manch autokratischer Regime.
Doch es sind nicht nur gemeinsame Werte wie Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, die den europäischen Gedanken ausmachen. Vergessen dürfen wir ebenfalls nicht: Baden-Württemberg hat wie kaum ein anderes Land von der europäischen Integration profitiert. Die EU bildet einen der größten Binnenmärkte der Welt, was unseren Unternehmen einen uneingeschränkten Zugang zu über 440 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern bietet. Durch die Abschaffung von Handelshemmnissen und Zöllen innerhalb der EU profitieren deutsche Exporteure von einem freien und ungehinderten Handel mit anderen Mitgliedstaaten. Allein durch diesen gemeinsamen EU-Binnenmarkt verzeichnet Deutschland einen Wohlstandsgewinn von mehreren Milliarden Euro pro Jahr. Studien ermittelten in der Vergangenheit durchschnittlich 1.000 Euro Gewinn an Wohlstand zusätzlich für jede Bürgerin und jeden Bürger. In Baden-Württemberg sogar noch etwas mehr – der höchste Wert unter allen Flächenländern. Jeder dritte Arbeitsplatz im Land hängt vom Exportgeschäft ab. Rund zwei Drittel dieser Exporte gehen dabei in den EU-Binnenmarkt. Durch den Abbau von Handelshemmnissen, die Harmonisierung von Vorschriften und die Förderung von Investitionen trägt die EU entscheidend dazu bei, die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen zu stärken und Arbeitsplätze zu sichern – auch in unserem Bundesland.
Zudem flossen allein in der letzten EU-Förderperiode 2014 bis 2020 Mittel in Höhe von insgesamt 7,5 Milliarden Euro aus EU-Programmen nach Baden-Württemberg. Neben Direktzahlungen für Landwirtinnen und Landwirte oder Geldern für die Entwicklung des Ländlichen Raums profitierte das Land beispielsweise auch aufgrund seiner starken Hochschulen und Forschungseinrichtungen vom EU-Forschungsprogramm Horizont 2020 sowie von den Interreg-Programmen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.
All diese Beispiele verdeutlichen: Auch wirtschaftlich gesehen ist die Europäische Union eine große Erfolgsgeschichte.
Nicht zuletzt deshalb gehört Baden-Württemberg zu den aktivsten Regionen in Brüssel. Auch im Koalitionsvertrag haben die Parteien bekräftigt, dass sich das Land noch frühzeitiger in die Entscheidungsprozesse der europäischen Institutionen einbringen und das Profil der Landesvertretung noch stärker an den strategischen und europapolitischen Schwerpunktthemen des Landes ausgerichtet wird. Auf einer auswärtigen Kabinettssitzung in Brüssel Ende Februar dieses Jahres wurden die entsprechenden Vorhaben skizziert.
So plant das Land, wichtige Anliegen im Zuge der Neuformierung der Europäischen Kommission für die Mandatsperiode 2024 bis 2029 in einem Positionspapier zusammenzufassen und zu Beginn der neuen Legislaturperiode an die Kommission zu übersenden. Im Zentrum steht dabei, die digitale und ökologische Transformation, die mit dem Europäischen Green Deal begonnen wurde, konsequent fortzuführen. Denn ein funktionierender Binnenmarkt, Innovationskraft und globale Wettbewerbsfähigkeit sind Garanten für Wohlstand und Wachstum – ganz besonders für eine Transformationsregion wie Baden-Württemberg.
Es wird ganz wesentlich darauf ankommen, dass starke Regionen wie Baden-Württemberg weiterhin stark bleiben und zielgerichtet unterstützt werden. Der Puls der Europäischen Union braucht eine starke wirtschaftliche Hauptschlagader. Denn es geht nicht nur um den Binnenmarkt. Die Konkurrenz unserer heimischen Unternehmen sitzt oftmals nicht in der EU, sondern in China oder dem Silicon Valley in den USA. Dies muss sich auch in einer nachhaltigen Kohäsionspolitik wiederspiegeln. So werden wir uns im Zuge des Strategiedialogs Automobilwirtschaft BW weiterhin auf dem Brüsseler Parkett für die besonderen Bedürfnisse dieses Wirtschaftszweigs einsetzen, aber auch die Entwicklungen bei den für das Land wichtigen Zukunftstechnologien wie Künstlicher Intelligenz, der Gesundheitswirtschaft oder Luft- und Raumfahrt genau im Blick behalten. Unser erfolgreiches Modell der Strategiedialoge haben wir eng mit Brüssel verknüpft, etwa die Dialoge zur Automobil- (seit 2019), Gesundheits- (seit 2020) und Landwirtschaft (seit 2023). Die Kommission hat sich daran ein Vorbild genommen und ähnliche Dialogprozesse eingeleitet, beispielsweise erst im Januar 2024 zur Zukunft der Landwirtschaft.
Klar ist: Die heutige EU und ihre Institutionen sind nicht perfekt. In Zeiten einer zunehmend instabilen Weltordnung, geopolitscher Spannung und dem Aufstieg autoritärer Kräfte brauchen wir die Europäische Gemeinschaft jedoch mehr denn je. Kein Land der Welt vermag die zentralen Herausforderungen unserer Zeit, wie etwa die Bekämpfung des Klimawandels, militärische Bedrohungen oder Fragen der Migration, alleine zu lösen. Auch wenn angesichts der vielen Krisen und Konflikte auf der Welt an vielen Orten wieder eine Renaissance des Nationalstaats als Lösung beschworen wird, so bin ich fest davon überzeugt: Die EU ist heute genauso wichtig wie bei ihrer Gründung, wenn nicht sogar wichtiger. Denn wir werden ohne starke europäische Institutionen gegen die Megamächte des 21. Jahrhunderts keine Chance haben. Das Schicksal Europas liegt in der Kooperation.
Dennoch braucht es eine sinnvolle Aufgabenverteilung in der EU. Für das Land steht auch weiterhin das Subsidiaritätsprinzip an erster Stelle. Entsprechende Aufgaben sollten nur dann auf die europäische Ebene verlagert werden, wenn sie nicht in den Mitgliedstaaten, Ländern, Landkreisen, Städten und Kommunen besser wahrgenommen werden können. Auch bürokratische Hürden müssen konsequent abgebaut werden – wir brauchen pragmatischere und flexiblere Regeln, die Spielräume vor Ort lassen. Denn ein großer Teil unserer Bürokratielasten kommt mittlerweile von der Europäischen Union.
Die kommenden Wahlen sind eine Gelegenheit, die Zukunft Baden-Württembergs und Europas mitzugestalten. Ich freue mich deshalb sehr, dass in diesem Jahr bei beiden Wahlen auch erstmals 16- und 17-Jährige ihre Stimme abgeben können, wie es bei den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg schon seit 2014 der Fall ist. Denn Themen wie der Schutz des Klimas oder die Prioritätensetzung bei öffentlichen Investitionen betreffen gerade junge Menschen in Zukunft unmittelbar. Zwar ist das Wahlrecht ab 16 Jahren kein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit und Demokratiemüdigkeit – aber es ist ein wirkungsvolles Mittel, um junge Menschen frühzeitig an demokratische Verfahren heranzuführen und ihre politische Urteilsfähigkeit zu stärken. Das gilt umso mehr in Zeiten, in denen demokratische Entscheidungsprozesse leider in vielen Teilen der Welt massiv in Frage gestellt werden.
Auch alle anderen Bürgerinnen und Bürger ermutige ich deshalb: Nutzen Sie ihr Wahlrecht, gehen Sie am 9. Juni 2024 wählen!