Als ich im November 1970 als erster Landesbeamter und damit als Stellvertreter des langjährigen hochangesehenen Landrats Wilfried Schäfer in den alten Landkreis Waldshut kam, war die Kreisreform schon ein kommunalpolitisches Reizthema ersten Ranges. Immer wieder gibt es emotional aufgeladene Themen, die sich wie Grundwellen in einer Gesellschaft aufschaukeln. Die Kreisreform war damals ein solches Thema. Nun gab es ja durchaus Sachargumente dafür, dass man die räumlichen Zuschnitte der Kreise vergrößerte und eine spezialisiertere Verwaltung in einer komplizierter werdenden Welt installierte. Es gab aber eben auch die gewachsenen Strukturen, die sogenannten sozio- ökonomischen Verflechtungen, die dadurch zu zerreißen drohten. Das Thema Kreisreform hatte bereits soviel politische Fahrt aufgenommen, dass es nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie ging.
Da Waldshut der aufnehmende Kreis war, der durch den Kreis Säckingen ohne den Raum Rheinfelden, die Raumschaften St. Blasien und Bonndorf an Fläche und Einwohnerzahl stark vergrößert wurde, waren die Reaktionen dort gelassen. Wenige Tage vor Inkrafttreten der Kreisreform wurde in Waldshut in der Kaiserstraße unter Passanten, von denen wohl nur wenige Schweizer Touristen waren, eine Umfrage durchgeführt. Die Leute wurden gefragt, was sie von der Kreisreform hielten. Etwa die Hälfte der Befragten gab an, sie hätten von der Kreisreform noch nichts gehört, obwohl seit Wochen in den Medien darüber berichtet wurde. Tatsache war: die Kreisreform bewegte die Bevölkerung ohnehin weniger als die nachfolgende Gemeindereform.
Die Idee eines Hochrheinkreises
Bei den zur Auflösung vorgesehenen Kreisen waren die Reaktionen naturgemäß heftiger. Das galt auch für den Kreis Säckingen, wo man einen Bedeutungsverlust der bisherigen Kreisstadt fürchtete. Aber Säckingen als eine der vier traditionsreichen Waldstädte konnte seine Stellung im neuen Kreis nicht nur behaupten, sondern nach wenigen Jahren als Bad Säckingen deutlich ausbauen.
Es ist zu bedauern, dass der Kreisreform kein in sich schlüssiges Konzept zu Grunde lag. Man ging zwar beim neuen räumlichen Zuschnitt von gewachsenen Strukturen aus, doch die definitive Ausgestaltung der neuen Kreise wurde nach politischen Opportunitäten weithin festgelegt. Es war letztlich ein politisch- technokratisches, kein sozio-ökonomisches Modell, das sich durchgesetzt hatte. Das hatte natürlich mit den vielen Akteuren und Interventionen der verschiedensten Interessentengruppen zu tun.
Die Kommission für die Kreisreform, deren Vorsitzender der damalige Innenminister Karl Schiess war, war die Anlaufstelle für viele politische Anliegen, Sonderwünsche, Vorschläge und Kritikpunkte. Das führte immer wieder zu Inkonsequenzen und Ungereimtheiten bei der endgültigen Form der Kreisreform. Das ist wohl der Preis, der für einen demokratischen Diskurs zu bezahlen ist.
Ich war von Anfang an der Meinung, dass es einen Hochrheinkreis mit Kreissitz in Waldshut geben sollte. Dazu gehörte auch, dass der gesamte Altkreis Säckingen einschließlich der Raumschaft Rheinfelden zu diesem Hochrheinkreis kommen sollte. Die Grenzlage zur Schweiz, die Probleme der Infrastruktur, der Wirtschaftsentwicklung, der Fremdenverkehrsförderung und der Entwicklung des ländlichen Raumes verlangten eigentlich die Bündelung in einem Landkreis, der ein in sich geschlossenes , homogenes Gebilde mit hoher politischer Schlagkraft gewesen wäre. Dabei sollte man auch die Integrationskraft eines Namens nicht unterschätzen. Namen sind in diesem Fall eben nicht nur Schall und Rauch. Für die Säckinger wäre es emotional leichter gewesen, sich in einen Hochrheinkreis hineinzufinden als in einen neuen Kreis Waldshut.
Dieser Webfehler, das Auseinanderreißen von homogenen Räumen, zog sich dann wie ein roter Faden durch die weiteren Kreiszuschnitte der angrenzenden neuen Landkreise. Lörrach erhielt die Raumschaft Rheinfelden zugeschlagen und nur einen Teil des Markgräfler Landes. Der andere Teil ging an den neuen Kreis Breisgau-Hochschwarzwald. Auch der Kaiserstuhl, eine eigenständige, in sich geschlossene Natur- und Kulturlandschaft, wurde zwischen zwei Landkreisen, Breisgau- Hochschwarzwald und Emmendingen, aufgeteilt. Der Riss ging also durch seit vielen Generationen zusammengehörende Landschaftsräume. Besonders deutlich wird dies beim ehemaligen Landkreis Hochschwarzwald, der aus politischen Gründen zerschlagen wurde, obwohl gerade seine naturräumliche Einzigartigkeit seine bisherige Stärke ausgemacht hatte, die durch die Aufsplitterung auf die drei Landkreise, Waldshut, Lörrach und Breisgau- Hochschwarzwald, deutlich gelitten hat.
Auch die Auflösung des Allgäu-Kreises Wangen ist ein solches negatives Beispiel.
Zur nordwestlichen Abrundung des neuen Landkreises Waldshut wäre es strukturell und politisch sinnvoll gewesen, den gesamten Brendener Berg, der zum größten Teil schon lange zum alten Kreis Waldshut gehörte, einschließlich der Gemeinden Schönenbach und die Raumschaft Schluchsee dem neuen Kreis Waldshut zuzuordnen. Dem stand entgegen, dass es den Bürgermeister von Schluchsee vehement zum Kreis Breisgau-Hochschwarzwald zog. Er hatte dabei einen mächtigen Verbündeten, den damaligen Ministerpräsidenten Filbinger, dem daran gelegen war, in seinen Wahlkreis Freiburg-Ost möglichst viele Hochschwarzwald-Gemeinden einzubeziehen. Unser damaliger Landtagsabgeordnete Dr. Rudolf Eberle, der als Wirtschaftsminister Gewicht im Kabinett hatte, versuchte mehrmals, ihn umzustimmen. Vergeblich. Letztlich lief es nach der alten Skatregel: Ober sticht Unter. Der Ministerpräsident entschied, dass der Raum Schluchsee dem Kreis Breigau-Hochschwarzwald zugeordnet wurde.
Überzeugungsarbeit bei den Bürgern
Für den neuen Kreis Waldshut ging es jetzt vorrangig darum, die neuen Kreisteile möglichst schnell zu integrieren und zu einer neuen Kreisgemeinschaft zusammenwachsen zu lassen. Am 22. Mai 1973 fand die konstituierende Sitzung des neuen Kreistags in konstruktiver Atmosphäre statt. Ich habe den Kreistag darauf eingeschworen, dass es neben den konkreten Sachaufgaben in erster Linie um die Integration der neuen Kreisteile gehen musste. Dieses Stichwort Integration beinhaltete ein vielfältiges Arbeitsprogramm. Es ging darum, in einem organischen Prozess, der wie alle Wachstumsvorgänge eine gewisse Zeit brauchte, das Proporzdenken zu überwinden und ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Der neue Großkreis Waldshut war zwar formal-juristisch in der berühmten logischen Sekunde zwischen dem 31.12.1972 und dem 1.01.1973 entstanden, aber das Zusammenwachsen mussten Alle gemeinsam leisten.
Bei diesem Verschmelzungsprozess der bisherigen Kreisteile mit den Neu-Dazugekommenen zu einem neuen Landkreis fiel dem Kreistag die Rolle eines Katalysators, also eines Beschleunigers, zu. Jede Gemeinde, jede Bürgerin und jeder Bürger musste durch die praktische Arbeit des Kreistags und der Kreisverwaltung wissen und spüren, dass sie im neuen Kreis gut aufgehoben sind. Dabei kam herausragenden kommunalpolitischen Persönlichkeiten wie dem langjährigen stellvertretenden Vorsitzenden des Kreistags, dem hoch angesehenen Rechtsanwalt Joachim Straub, und dem allseits populären und beliebten Vorsitzenden der Bürgermeistervereinigung, dem legendären Bürgermeister Bertold Schmidt von Lauchringen, eine wichtige Schrittmacherrolle zu. Sie setzten sich mit ihrem guten Namen und ihrer in vielen Jahren erworbenen Reputation zusammen mit vielen angesehenen Kommunalpolitikern ein. Die Bürgermeister insgesamt standen von Anfang an loyal zum neuen Kreis.
Vorbehalte gab es verständlicherweise eine gewisse Zeit im ehemaligen Kreis Säckingen. Da ich selbst gebürtiger Säckinger bin und bis zu meinem 12. Lebensjahr in Säckingen aufgewachsen bin, hatte ich dort noch einen großen Bekannten – und Freundeskreis. Etliche meiner ehemaligen Schulkameraden waren in kommunalen und anderen ehrenamtlichen Funktionen tätig. Zu ihnen hatte ich einen freundschaftlichen Zugang und konnte so durch persönliche Gespräche zur Entspannung der Situation beitragen, zumal mit mir ja ein gebürtiger Säckinger in Waldshut Landrat war.
Keine Willkommens-Geschenke
Ein dickes Paket von Investitionsaufgaben lag vor dem Kreistag und der Verwaltung: Ausbau und Modernisierung des beruflichen Schulwesens in Waldshut und Säckingen, ein umfangreiches Strassenbau-Programm, bei dem es neben den Frequenzen vor allem auch auf die Erschließung des ländlichen Raumes ankam. Bei den Gesprächen mit den Raumschaften St. Blasien und Bonndorf stand die Förderung der Wirtschaftskraft und des Fremdenverkehrs im Vordergrund. Bei allem Verständnis für die Belange dieser Gemeinden aus dem ehemaligen Kreis Hochschwarzwald war ich nicht zu irgendwelchen Zugeständnissen in Form von Willkommens-Geschenken bereit, auch nicht in den zähen Gesprächen mit dem politisch äußerst versierten Landtagsabgeordneten und langjährigen Bürgermeister von Ewattingen, Josef Burger, der in den Gesprächen kein Hehl aus seiner Vorliebe für Donaueschingen machte. Obwohl der neue Kreistag mit Mitgliedern aus den verschiedenen alten und neuen Raumschaften sich erst zusammenfinden musste, bewies er schon in den ersten Jahren nach der Kreisreform eine erstaunliche Arbeitsfähigkeit. Er zerfiel nicht in Gruppen mit Partikularinteressen, sondern fand rasch zu einem gemeinsamen, gemeindeübergreifenden Arbeitsstil, der bei allem Einsatz für den eigenen Wahlbezirk das große Ganze des Landkreises im Blick behielt. Es galt der Grundsatz: Nur ein den gemeinsamen Interessen verpflichteter Kreis kann ein starker und verlässlicher Partner für seine Gemeinden sein.
Kreistag und Kreisverwaltung haben schon in den ersten Jahren nach der Kreisreform eine große Agenda abgearbeitet. In Waldshut und in Säckingen wurde mit Sanierungen und Neubauten das gesamte berufliche Schulwesen, das ja in der Trägerschaft des Landkreises war, modernisiert, qualifiziert und damit zukunftsfest gemacht. Es waren und sind die wichtigsten Bildungseinrichtungen, aus denen der qualifizierte Nachwuchs für das Handwerk, den gewerblichen Mittelstand und den Handel hervorging. Die wirtschaftliche Stabilität des Kreises hing davon ab. Die Kreishandwerkerschaft mit dem tatkräftigen Bernhard Ebi an der Spitze unterstützte die Bemühungen der Kreisverwaltung wirkungsvoll. Dasselbe galt für die Industrie-und Handelskammer. Der Ausbau und die Stärkung der kreiseigenen Landwirtschaftsschule und der Hauswirtschaftsschule komplettierten das kreiseigene Bildungsangebot.
Der sozialpolitisch stark engagierte Landrat Wilfried Schäfer hatte die Sozialpolitik schon im alten Kreis Waldshut von Anfang an zu einem Schwerpunkt der Kreisarbeit gemacht. Ich setzte diese Traditionslinie fort. So übernahm der Landkreis die Trägerschaft für die Schulen für bildungsschwache Kinder. Eine Sonderschule B wurde in Tiengen gebaut. Durch die engagierte Persönlichkeit der Schulleiterin Frau Wörner aus Dogern, die hohe fachliche Kompetenz mit ansteckender Begeisterung verbunden hat, wurde die Sonderschule für Bildungsschwache in Tiengen zu einem Vorzeige- Projekt, das Maßstäbe für diese Schulart setzte. Die heutige Inklusion bringt nach meiner festen Überzeugung den Schülern bei weitem nicht den Bildungserfolg , den die hoch spezialisierten Sonderschulen geleistet haben. Da hat Ideologie über Sachverstand und Erfahrung triumphiert.
In zähen Verhandlungen mit dem Sozialministerium gelang es, den Neubau des Kreiskrankenhauses Säckingen durchzusetzen. Dieser Neubau hatte auch für die Befriedung und die Integration von Säckingen in den neuen Landkreis eine große Bedeutung. In Wehr etablierte der Kreis die erste Sozialstation in Baden-Württemberg in der Trägerschaft eines Kreises. Auch diese Maßnahme machte das Engagement des neuen Landkreises im Altkreis Säckingen deutlich.
In Bonndorf wurde das Schloss in die Trägerschaft des Kreises übernommen und zu einem regionalen Kulturzentrum ausgebaut. Durch den relativ nahegelegenen Flughafen Zürich/ Kloten war es möglich, immer wieder hochkarätige Kulturschaffende wie Musiker, Maler, Schriftsteller nach Bonndorf zu bringen. Die Kunstausstellungen genossen rasch einen überregionalen Ruf bis nach Baden-Baden, dessen Kunsthallen-Direktor einmal sagte, ein Kulturzentrum dieses Ranges gehöre eigentlich in eine größere Stadt. Aber das Gegenteil erwies sich als richtig. Das Schloss Bonndorf entwickelte sich zu einer kulturellen Perle mit einer großen Ausstrahlung in den ländlichen Raum, die ihresgleichen sucht. Der langjährige Bonndorfer Bürgermeister Peter Folkerts mit seinem unablässigen persönlichen Einsatz hat einen bedeutsamen Anteil an diesem Erfolg.
Japan lernte vom Beispiel des Landkreises
Der neue Kreis entwickelte attraktive Konzepte für den ländlichen Raum. Auf Initiative des Ühlinger Bürgermeisters Karl Sternadl kamen selbst aus Japan Jahr für Jahr Repräsentanten ländlicher Präfekturen, um Anregungen für die Stärkung ihrer eigenen ländlichen Räume mit nach Hause zu nehmen. Ein ambitioniertes Straßenbau-Programm wurde realisiert dank eines kommunalen Förderprogramms, das Landrat Wilfried Schäfer schon im alten Kreis Waldshut erfolgreich eingeführt hatte. Für die Erschließung des ländlichen Raumes, für Wirtschaft und Fremdenverkehr war ein leistungsfähiges Straßennetz von enormer Bedeutung.
Das politische Gewicht des Kreises wurde dadurch gestärkt, dass es gelungen ist, insbesondere dank des persönlichen Einsatzes von Landeswirtschaftsminister Dr. Eberle, des örtlichen Landtagsabgeordneten, Waldshut zur Regionalhauptstadt des neuen Regionalverbandes Hochrhein-Bodensee zu machen.
Standortfragen führten und führen wohl immer zu Frontstellungen. So musste für eine effiziente Verwaltung ein Neubau konzipiert werden. Die Frage des Standortes führte zu einer heftigen Kontroverse zwischen den Kreisräten aus Waldshut und aus Tiengen. Nach wahren Redeschlachten entschied sich der Kreistag mehrheitlich für den jetzigen Standort in Waldshut.
Der Trend in den neuen Kreisen ging unverkennbar dahin, den klassischen Bereich der Daseinsvorsorge zu erweitern. Daseinsvorsorge und Leistungsverwaltung haben das Gesicht der modernen Kreisverwaltung geprägt. Mit seinem entschlossenen Engagement für den Neubau des Kreiskrankenhauses Säckingen hat der neue Kreis ein deutliches Zeichen gesetzt.
Dabei war es mir immer wichtig, darauf zu achten, dass die Bürgerinnen und Bürger im Mittelpunkt der Bemühungen standen und Bürgerinteresse und Bürgerkontakt mindestens denselben Stellenwert hatten wie die Verwaltungseffizienz. Nur so konnte ein lebendiges Kreisbewusstsein entstehen, das die Bevölkerung auch emotional mit ihrem Landkreis verband. Das große Ziel musste die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Stadt und Land sein.
Der neue Landkreis Waldshut ist vergrößert und gestärkt aus der Kreisreform herausgekommen, aber er war und ist auch herausgefordert durch viele alte Probleme wie die Grenzlage mit den sich daraus ergebenden Folgen, den Chancen und den Risiken.
Mit einem zeitlichen Abstand von 50 Jahren lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass sich der neue Landkreis gut entwickelt hat und seinen Bürgerinnen und Bürgern eine Kreisheimat geschaffen hat, die allgemein akzeptiert ist. Die Weichen für eine gute gemeinsame Zukunft sind gestellt.
Geboren 1937 in Säckingen. Der promovierte Jurist war von 1973 bis 1979 Landrat des neu gebildeten Landkreises Waldshut. 1979 wurde er Regierungspräsident des Regierungspräsidiums Freiburg. Er hatte dieses Amt bis 1991 inne. Anschließend wechselte Nothhelfer zur Rothaus AG in Grafenhausen, wo er als Alleinvorstand bis 2004 erfolgreich wirkte. Er lebt heute in Freiburg. Nach wie vor pflegt er familiäre und freundschaftliche Verbindungen in den Landkreis Waldshut.