In einem eintägigen Planspieltag zu einem aktuellen europapolitischen Thema erleben 60-70 Auszubildende aus den beteiligten Kommunen und Kreisen den europäischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess, die Rolle der beteiligten Institutionen und deren Einflussmöglichkeiten auf die europäische Gesetzgebung. Und sie üben sich darin, Perspektiven anderer politischer Kulturen und Einstellungen ein- und anzunehmen, um so ein Verständnis für gesamteuropäische wie nationale Sichtweisen zu entwickeln.
In seiner einführenden Rede beim Auftakt des ersten EU-Azubi-Gipfel 2015 im Landratsamt Tübingen stellte Joachim Walter, Landrat des Landkreises Tübingen, die Bedeutung der Europafähigkeit für die Auszubildenden der Verwaltung heraus: „Europa ist oft abstrakt und „weit weg“, obwohl sehr viele Themen auf der kommunalen Ebene direkt von Europa beeinflusst sind. 80 % aller Vorschriften, die auch für uns maßgeblich sind, beruhen auf der EU-Gesetzgebung. Und schon deshalb ist es, glaube ich, sehr wichtig, dass Sie sich als künftige Verwaltungsfachkräfte heute mal einen ganzen Tag lang die Zeit nehmen, in die Abläufe auf EU-Ebene einzutauchen und sich in Form eines Rollenspiels intensiv mit dem Gesetzgebungsverfahren der EU auseinanderzusetzen.“
Diese Worte verdeutlichen die Relevanz des Themas „Europa“ für unsere Verwaltungen und die Notwendigkeit, sich in der Verwaltungsausbildung mit der Struktur und den Verfahren der europäischen Gesetzgebung auseinanderzusetzen.
Erster Teil des EU-Azubi-Gipfel Neckar-Alb
Durch das Planspiel zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Artikel 294 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union setzen sich die Auszubildenden mit den Entscheidungs- und Willensbildungsprozess in der EU auseinander. Dabei debattieren sie in unterschiedlichen Rollen - als EU-Abgeordnete*r, als Kommissar*in oder als nationale Minister*in - in den verschiedenen Gremien entsprechend den vorgegebenen Verfahrensschritten. Themen für dieses Rollenspiel sind z.B. die Aufnahmekriterien für Asylsuchende oder Verfahren, wie Kunststoffmüll vermieden werden kann. Dabei müssen sie als Entscheidungsträger tragbare Lösungen für diese Fragestellungen finden.
Dies ist angesichts der unterschiedlichen Interessenslagen von sieben politischen Parlamentsfraktionen und 27 Mitgliedsländern keine leichte Aufgabe. Wie in der Realität ist die Debatte in diesem simulierten Gesetzgebungsprozess mühsam und von Interessenskonflikten und Konsensfindung geprägt, bis Parlament und Rat einer Richtlinie oder Verordnung zustimmen.
Rollenspiel am Beispiel der Asyl- und Flüchtlingspolitik
Angesichts der aktuellen Flüchtlings- und Migrationsdebatten in Europa ist das Planspiel zur europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik optimal für das Kennenlernen der europäischen Entscheidungsfindungsprozesse. Die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen in Europa und die Frage, wie eine gemeinsame europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik im Spannungsfeld von humanitärem Asylrecht und der Frage der Aufnahmebedingungen und Aufnahmewilligkeit der EU gestaltet sein könnte, ist gerade auf kommunaler Ebene von besonderer aktueller Relevanz und holt die Auszubildenden in ihrer Arbeitswelt ab.
Während die EU-Institutionen mehrere Monate und manchmal auch Jahre benötigen, um eine gemeinsame Lösung zu finden, müssen die Auszubildenden in ihren Rollen die Entscheidungsschritte des Gesetzgebungsverfahrens durchlaufen und in nur sechs Stunden eine für alle 27 Mitgliedstaaten und 450 Mio. Bürger*innen verbindliche Regelung treffen. Da stöhnt(e) so manch eine*r: „Müssen wir jetzt noch weiterverhandeln oder können wir den Streitpunkt nicht einfach rauslassen, damit es weitergeht?“
In einer gemeinsamen Auswertungsrunde berichten die Auszubildenden anschließend über ihre Erfahrungen und legen gleichzeitig die zugelosten Rollen ab, um sich von diesen distanzieren zu können. Und zum Ende des langen Planspieltages spricht ein*e Europageordnete*r mit den Auszubildenden – ob nun in Präsenz oder online –, um ihre Erfahrungen mit einem ‚echten‘ Abgeordneten einem ersten Realitätscheck zu unterziehen.
Zweiter Teil des EU-Azubi-Gipfel: Besuch des EU-Parlaments in Straßburg
Das Europawissen erfährt einige Monate später durch einen eintägigen Besuch des Europäischen Parlaments in Straßburg einen zweiten „Realitätscheck“, bei dem die Jugendlichen vor Ort Einblicke in die Praxis der parlamentarischen Arbeit bekommen: Die Auszubildenden besuchen eine Plenarsitzung des Europäischen Parlaments und haben wieder die Möglichkeit, Fragen, die das Planspiel aufgeworfen hat, im Gespräch mit Abgeordneten zu diskutieren. Stimmen die im Planspiel erlebten Politikerfahrungen mit den Erfahrungen der Europaabgeordneten überein? Ist die Entscheidungsfindung wirklich so zäh? Welche Positionen wurden bei der Diskussion um die Aufnahme von Asylsuchenden vertreten? Wie ist eine Abstimmung innerhalb einer Fraktion organisiert? Wie wird das ständige Pendeln zwischen Brüssel, Straßburg und Zuhause bewältigt?
Die Studienfahrt zum Europäischen Parlament und die Abgeordnetengespräche sind ein besonderes Highlight und runden den EU-Azubi-Gipfel Neckar-Alb gewinnbringend für alle ab.
Ziele des EU-Azubi-Gipfels
Wesentliches Ziel des EU-Azubi-Gipfels ist es, die zentralen Verfahrensschritte des europäischen Gesetzgebungsprozesses und die Komplexität dieser Entscheidungsfindungsprozesse zu verstehen. Wenn die Mehrheit unseres Verwaltungshandelns auf Richtlinien und Verordnungen der EU gründet, ist dieses Europawissen von großer Bedeutung für die eigene Urteilsbildung und vor allem auch für die praktische Arbeit auf der kommunalen Ebene vor Ort. Die Auszubildenden können nach dem Planspiel einschätzen, welche EU-Institution welchen Einfluss auf die rechtlichen Vorgaben hat(te), wie die Gesetzgebung auf EU-Ebene abläuft und wer daran beteiligt ist. So wird auch die Relevanz des Europäischen Parlamentes im europäischen Institutionengefüge den Auszubildenden bewusst und vor allem wird dem Mythos entgegengewirkt, die EU sei ein bürokratisches Monster.
Nicht zu vergessen: Das Europäische Parlament ist noch immer das einzige Parlament einer supranationalen Organisation, dessen Mitglieder - 705 Abgeordnete (ab 2024 sind es 720) aus 27 Mitgliedstaaten - von den 450 Mio. Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählt wird.
Organisation und Struktur des EU-Azubi Gipfels, Ausblick auf die weitere Entwicklung
Initiiert von Auszubildenden des Landratsamtes Tübingen und einigen Europa- und Ausbildungsbeauftragten der Region Neckar-Alb, etablierte sich der EU-Azubi-Gipfel Neckar-Alb in wenigen Jahren als wertvolles interkommunales Projekt für und mit den Auszubildenden der Kommunen und Landkreise. Der Veranstaltungsort für den Planspieltag wechselt jährlich zwischen den drei Kreisen und Kommunen und stärkt damit auch die Europakompetenz der jeweiligen kommunalen Verwaltungen. Wenn ein Landratsamt oder ein Rathaus zum Austragungsort des EU-Planspiels werden, belebt dies auch intern die Diskussionen über europapolitische Themen.
Um die Auszubildenden auf den Planspieltag vorzubereiten, führen die für den EU-Azubi-Gipfel verantwortlichen Europa- und Ausbildungsbeauftragten mit den Auszubildenden kleine interaktive Veranstaltungen durch und vermitteln Grundlagen zu EU-Europa und den ausgewählten Planspielthemen, wie z.B. der Asyl- und Migrationspolitik oder der Umweltpolitik.
Wie diese Projektidee 2015 von den Auszubildenden des Landratsamtes selbst initiiert wurde, machen die folgenden Sätze deutlich, die dem Brief dieser an Landrat Joachim Walter entnommen sind:
„Wir Azubis vom Landratsamt Tübingen würden gerne an diesem Planspiel teilnehmen, um die komplexen Aufgaben, Strukturen und Abläufe von EU-Gremien näher kennenzulernen.“
Das Engagement für den EU-Azubi-Gipfel, das auch in diesem Brief zum Ausdruck kommt, zeichnet bis heute die Auszubildenden des Landratsamtes Tübingen aus. Zur Vorbereitung auf den letzten EU-Azubi-Gipfel 2023 und als Auftakt zu der Europawahl am 9. Juni 2024 drehten fünf Auszubildende des Landratsamtes Tübingen das Video „Europa bewegt!? Sie führten Interviews mit Bürger*innen aus dem Landkreis Tübingen mit den Fragen: Warum ist Europa wichtig für Sie? Und warum sollte man an der Europawahl teilnehmen? Die Interviewten spiegelten auf unterschiedliche Weise den europäischen Mehrwert und ihre Erwartungen an Europa in ihren Antworten wider: Frieden, Freiheit, Demokratie, Wohlstand und europäische Solidarität. „Wir brauchen Europa, Deutschland ist viel zu mickrig, um die aktuellen Probleme alleine zu lösen“, so eine Interviewte.
Mit EU-Azubi-Gipfel Neckar-Alb haben wir ein neues und erfolgreiches Format der interkommunalen Kooperation für die europapolitische Bildungsarbeit etabliert, der Impulse für weitere gemeinsame Aktivitäten in der Region gegeben hat, wie z.B. das Erasmus+ Netzwerk Neckar-Alb.
Das Besondere des Kooperationsprojekts besteht neben dem Austausch der Jugendlichen jedoch vor allem darin, den Auszubildenden den Mehrwert Europas zu vermitteln, das Interesse an europäischen Themen zu wecken und – im Idealfall – die Motivation an der Gestaltung europäischer Belange partizipieren zu wollen.
Organisatorische Tipps
Wer gerne selbst einen Planspieltag zur europäischen Gesetzgebung und eine Studienfahrt nach Straßburg realisieren möchte und organisatorische und fachliche Unterstützung benötigt, kann sich bei der Landeszentrale für politische Bildung beim Europareferat oder gerne auch bei der Autorin des Artikels melden. Das Planspielteam der CIVIC GmbH – Institut für internationale Bildung, das in den letzten Jahren wiederholt beim EU-Azubi-Gipfel Neckar-Alb zum Einsatz kam, hat seinen Sitz in Düsseldorf und ist spezialisiert auf die Konzeption und Durchführung von europapolitischen Planspielen. Auch das Europa Zentrum Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart ist ein kompetenter Ansprechpartner für die Vorbereitung und Realisierung von europapolitischen Veranstaltungen und Planspielen mit Auszubildenden. Fragen in Bezug auf die Finanzierung des EU-Azubi-Gipfel inklusive der Straßburgfahrt beantwortet die Autorin gerne persönlich.
Europa und Internationales
https://www.lpb-bw.de/europa-und-internationales
Das Besucherangebot
https://visiting.europarl.europa.eu/de