Einmal abgesehen von Australien: Auf allen Kontinenten, in mehr als 60 Ländern, wird in diesem Jahr gewählt. Allein in sieben der zehn bevölkerungsreichsten Länder sind insgesamt gut 40 Prozent der Weltbevölkerung zur Stimmabgabe aufgerufen, allen voran in Indien, wo rund eine Milliarde wahlberechtigte Menschen über die künftige Besetzung des Unterhauses entscheiden können. So viel Beteiligung wie in diesem Superwahljahr 2024 war noch nie.
Wohin man auch blickt, hat sich der Wahlakt durchgesetzt, wird das Volk einbezogen, scheinen sich die Rituale zu gleichen. Selbst sogenannte illiberale und defekte Demokratien, Scheindemokratien mit eingeschränkter Gewaltenteilung und sogar Diktaturen wie Russland und sein Vasallenstaat Belarus stellen Wahlurnen auf. Doch der Anstrich von Mitsprache ändert nichts am Anspruch der Machthaber auf unumschränkte Alleinherrschaft.
Wenn also 2024 fast die halbe Menschheit auf Erden zur Wahl schreitet, ist Stimmzettel nicht gleich Stimmzettel. Er bleibt von begrenzter Wirkungskraft, wo Grundrechte wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit beschnitten sind. Schon gar nicht lassen sich demokratische Verhältnisse in den Wahlkabinen einer Autokratie erzielen. Vielmehr ist es so, dass an einem solchen Ort scheindemokratischer Handlung die Entrechtung der Menschen auch ohne körperliche Gewalt durchschlagend wirkt. Dann wird die individuelle Entscheidung, nicht zu wählen, zum subversiven Akt politischer Willensbekundung. Wie zuletzt im Iran.
Umso kostbarer ist der Stimmzettel dort, wo Wählerinnen und Wähler selbstbestimmt, ohne Angst vor Repression, von ihm Gebrauch machen können. Allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen garantieren die Teilhabe am demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess. In Deutschland ist das Wahlrecht im Grundgesetz verankert, ausgehend von der Feststellung: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Auch andere liberale Demokratien sichern das Wahlrecht über die Verfassung ab. Es ist nicht zuletzt dieses verheißungsvolle Versprechen auf politische Teilhabe, das die Erfolgsgeschichte des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats erklärt.
Es ist zugleich ein fragiles Versprechen. Denn das Volk, das als Souverän das verbriefte Recht auf Teilhabe genießt, kann dieses Recht immer auch gegen die demokratische Ordnung selbst richten. Dann können sich demokratische Wahlen in Schicksalswahlen für die Demokratie verwandeln. Im Superwahljahr 2024 wird diese grundsätzliche Verletzlichkeit von Demokratie auf schmerzliche Weise deutlich. Sie ist nicht nur ein Problem in fernen Ländern oder jenseits des Atlantiks bei den Präsidentschaftswahlen in den USA. Im Wissen um diese Verletzlichkeit, die Demokratie von innen heraus bedrohen kann, richtet sich der Blick auch auf nahende Termine hierzulande, auf den 9. Juni, an dem zeitgleich mit den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg und sieben weiteren Bundesländern auch die Europawahlen stattfinden.
Zum sechsten Mal werden im deutschen Südwesten beide Wahlen am selben Tag abgehalten. Dabei können die Bürgerinnen und Bürger nicht nur mitentscheiden, auf welche Weise sich Politik im Großen wie im scheinbar Kleinen auf ihren Alltag auswirken soll. In beiden Fällen haben sie es auch in der Hand, ein klares Bekenntnis für die Demokratie zu setzen. Diese Parallelität findet im gemeinsamen Wahlsonntag ihren symbolischen Ausdruck und verbindet zwei Wahlen, als deren gemeinsame Besonderheit lange Zeit die eher moderate Wahlbeteiligung galt. Viele Jahre pendelte der Stimmenanteil hier wie da um die 50 Prozent. Er lag damit deutlich unter dem Wert bei Bundestags- und Landtagswahlen. Doch dies ist nicht zwangsläufig der Fall. Mobilisierung schärft das demokratische Bewusstsein. So wie 2019, als die Beteiligung deutlich anstieg: auf 61,4 Prozent bei den Europawahlen in Deutschland und auf 58,6 Prozent bei den Kommunalwahlen im Land.
Demokratie ist kein statischer Zustand. Sie muss erkämpft und errichtet, sie muss aber auch weiterentwickelt, bewahrt und verteidigt werden. Demokratie ist nicht für alle Zeiten gesetzt, sondern verändert sich. In Europa hat sich dieser Wandel seit dem Zweiten Weltkrieg in drei prägenden Phasen vollzogen: Erstens hat sich die Idee der Menschenrechte durchgesetzt. Zweitens ist über die Jahrzehnte hinweg das Projekt der europäischen Integration vorangeschritten. Drittens hat sich mit der Deutschen Einheit und dem Fall des Eisernen Vorhangs zunächst das westliche Demokratiemodell ausgebreitet.
Nach dem Zeitenbruchjahr 1989 erfasste eine Welle der Demokratisierung viele Länder, insbesondere in Osteuropa. Es war die dritte Welle der Demokratisierung weltweit, nach zwei Wellen zuvor, die sich jeweils nach den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert ausgebreitet hatten. Doch diese dritte Welle ist inzwischen rückläufig. Stattdessen rollt eine Welle der Autokratisierung über viele Staaten weltweit hinweg. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts steht Demokratie international zunehmend unter Druck. Renationalisierung, ein erstarkender (Rechts-)Populismus und ein zunehmend revisionistisch agierender Autoritarismus stellen die freiheitlich-demokratische Ordnung in Frage, verändern die Strukturen und Stabilität des politischen Systems.
Die Verlockungen des Autoritären finden längst auch in Europa ihren Niederschlag – in Ungarn, über viele Jahre hinweg in Polen, sogar in Gründerländern der Europäischen Gemeinschaft wie Italien, den Niederlanden und Frankreich. Wenn also am 9. Juni rund 350 Millionen Menschen in den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union dazu aufgerufen sind, die 720 Abgeordneten des Europaparlaments zu bestimmen, welches Gewicht erhalten dann die Parteien, die kein Europa der offenen Grenzen wollen, sondern einen Kontinent mit Schlagbäumen, der Abgrenzung, beherrscht vom Gespenst des Nationalismus und vom Echo ethnozentristischer Parolen wie „Unser Land zuerst“? Was wird aus dem Projekt des Friedens, das nach dem Zweiten Weltkrieg dazu beitrug, Feindschaften zu überwinden?
„Menschen verbinden“ – diese hoffnungsvolle Vision formulierte der französische Wegbereiter des friedlichen und freiheitlichen Europas Jean Monnet wenige Jahre nach 1945. Damit beschrieb er einen Wesenskern von Demokratie, der sich in Europa über die Jahrzehnte ausgeprägt hat: Es geht darum, unterschiedliche Menschen zusammenzubringen, sie im demokratischen Wertesystem zu verankern, sie einzubeziehen in Strukturen des Zusammenwirkens und -arbeitens. Die Wählerinnen und Wähler – in Deutschland sind sie nun erstmals ab 16 Jahren dabei – können Politik in Europa mitgestalten. Mit ihrer Stimme können sie nicht nur die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse beeinflussen, sondern auch die Ausrichtung des Europaparlaments, der einzigen direkt gewählten supranationalen Institution dieser Welt. Es geht um nichts Geringeres als „Einheit in Vielfalt“.
Bei den Kommunalwahlen in Baden-Württemberg sind mehr als acht Millionen Menschen stimmberechtigt. Und auch hier gilt: Je mehr Stimmen geltend gemacht werden, desto wirkungsvoller können extreme Positionen an den Rand gedrängt werden. Auf kommunaler und regionaler Ebene zeigt sich das unmittelbar. Politik vor Ort, nah dran an den Bürgerinnen und Bürgern, setzt Konfrontation mit der Realität voraus. Die spalterische Vorstellung, im politischen Nahraum lasse sich zwischen „denen da oben“ und „wir da unten“ trennen, führt an dieser Realität vorbei. Die Kommune, „Keimzelle der Demokratie“, lebt vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Mehr denn je braucht sie die Solidarität der Gemeinschaft, wenn einzelne Engagierte mit Hass und Hetze konfrontiert sind. Und auch darum geht es bei diesen Wahlen: Gesicht zeigen.
Das Superwahljahr 2024 mit seinen ambivalenten Perspektiven rüttelt nicht nur auf – es fordert auch zum Nachdenken über Demokratie heraus. Das Wissen um ihre Zerbrechlichkeit ist so allgegenwärtig wie die unausweichliche Wahrnehmung ihrer Schutzbedürftigkeit. Darin liegt eine Chance, die Kräfte freisetzen kann, wie zu sehen ist: Viele Menschen haben betroffen auf die Recherchen des Journalistennetzwerks Correctiv reagiert. Das Entsetzen über rechtsextreme „Remigrations“-Pläne hat sie zu hunderttausenden auf die Straßen getrieben, um für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit und zugleich für ihre Nachbarn, Kolleginnen und Mitschüler mit Migrationsgeschichte zu demonstrieren. Im gemeinsamen „für-etwas-sein“ lernt die heterogene Gesellschaft sich selbst kennen und verortet sich in kollektiver Selbstvergewisserung im Koordinatensystem der demokratischen Werte. Bisher als trennend wahrgenommene Unterschiede treten in den Hintergrund. Das Verbindende wird sichtbar – das ist der Nährboden für Demokratie.
Es gibt viele Gründe, um über Demokratie nachzudenken. Politische Bildung kann hier vielfältige Angebote machen, zumal in diesem Superwahljahr 2024, das auch die Menschen in Baden-Württemberg umtreibt. Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg begleitet die Vorwahlzeit mit vielen Veranstaltungen in unterschiedlichen Formaten an Schulen und für die interessierte Öffentlichkeit. Im Internet (www.kommunalwahl.de bzw. www.europawahl-bw.de) und in Publikationen – von Wahlhilfen in Leichter Sprache über Lernmaterialien bis hin zum Standard- und Nachschlagewerk „Handbuch Kommunalpolitik“ – wird über das Beteiligungspotenzial der Kommunal- und Europawahlen informiert. Der Nachfrage nach zu schließen: Das Interesse der Menschen ist groß, sehr groß. Die Bereitschaft, sich zu informieren, zeigt sich deutlich. Das lässt hoffen. Denn Demokratie lebt von Beteiligung. Nicht zuletzt lebt Demokratie von der Bereitschaft, selbst etwas zu geben – und sei es nur die eigene kostbare Stimme. Denn es braucht viele Stimmen für die Demokratie.