Wahlaltersenkung

Wählen und gewählt werden ab 16

Zum dritten Mal dürfen Jugendliche ab 16 Jahren auf kommunaler Ebene wählen. Wenn sich etwas wiederholt, dann gewöhnt man sich daran. Aus jugendpolitischer Sicht ist es richtig, dass das Wahlalter 16 „gewöhnlich“ wird. Wenn am 9. Juni 2024 erstmals Bürger*innen ab 16 Jahren in kommunale Gremien gewählt werden, startet bundesweit eine neue politische Eingewöhnungsphase.
Jürgen "Buddy" Dorn · Landesjugendring Baden-Württemberg e.V. · 11. April 2024
Buddy unter Strom
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Am 11.4.2013 beschloss der Landtag von Baden-Württemberg das Mindestwahlalter bei kommunalen Wahlen von 18 auf 16 Jahre abzusenken. Nach 2014 und 2019 können Jugendliche im Alter von 16-18 Jahren in Baden-Württemberg am 9.6.2024 zum dritten Mal die Besetzung von Ortschafts- und Gemeinderäten, Kreistagen sowie des Verbands Region Stuttgart mitbestimmen.

Bildlich gesprochen ist das Wahlrecht die Goldmedaille der repräsentativen Demokratie. Es stellt das fundamentale Recht der Bürger*innen dar. Mit der Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre beim aktiven Wahlrecht wurde eine Seite der Medaille mehr zum Glänzen gebracht. Die andere blieb jedoch zunächst stumpf.

Mit der historischen Entscheidung des Landtags am 29. März 2023 können bei den Kommunalwahlen 2024 minderjährige Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren nicht nur ihr aktives Wahlrecht ausüben, sondern sie können als Kandidat*innen für kommunalpolitische Mandate antreten. Damit wurde nun zumindest auf kommunaler Ebene die andere Seite der Medaille in Baden-Württemberg ebenfalls - und zudem bundesweit einmalig - poliert.
 

Warum „gewählt werden mit 16“ richtig ist

Die Bedenken gegen die Absenkung des Wahlalters für die Wählbarkeit konzentrierten sich vor allem auf zwei Aspekte:

Erstens wurde mangelnde Reife der neuen Wähler*innen-Gruppe angeführt. Das gleiche Argument also, das vor über 50 Jahren vorgebracht wurde, als das passive Wahlrecht 1972 bei Bundestagswahlen zunächst von 25 auf 21 Jahre und dann 1975 auf 18 Jahre gesenkt wurde. Historisch finden sich allerdings nachfolgend keine Belege, dass durch mangelnde Reife junger Abgeordneter die repräsentative Demokratie beschädigt wurde.

Daran anschließend wurde zweitens argumentiert, dass Minderjährige rechtlich nicht umfassend handlungsfähig seien. Das aktive und passive Wahlrecht ist aber nicht nur die Goldmedaille der Demokratie. Es stellt ein herausragendes Rechtsgut dar. Es kann Bürger*innen nur in ganz engen Grenzen entzogen werden. Es darf auch nicht vorenthalten werden, falls Bürger*innen in ihrer Handlungsfähigkeit durch andere Rechtsnormen eingeschränkt sind. Sollten dadurch Minderjährige zu Mandatsträger*innen zweiter Klasse werden, dann obliegt es der Legislative, das Recht anders auszugestalten. Das Recht ist dann so zu setzen, dass gewählte minderjährige Mandatsträger*innen ihr Mandat auf Augenhöhe mit allen anderen Gewählten wahrnehmen können.

Für mich sind gegenüber den rechtlichen Bedenken politische Argumente viel gewichtiger. Die Shell Jugendstudie 2019 stellt fest, dass das Vertrauen junger Menschen in die Politik gering ist. Fast dreiviertel der Befragten im Alter von 15 bis 25 Jahren glaubten, dass Politiker*innen sich nicht um ihre Meinung kümmern. Die Pandemie scheint diese Wahrnehmung junger Menschen noch verstärkt zu haben. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls die dritte JuCo-Studie der Universtäten Hildesheim und Frankfurt. Nur 13,2 % der befragten Jugendlichen stimmten im Dezember 2021 voll oder eher der Aussage zu, dass junge Menschen politische Entscheidungen beeinflussen können. Im Sinne der politischen Sozialisation in einem demokratischen System sind es fatale Ergebnisse, wenn junge Menschen als Erstwähler*innen mit Skepsis und Misstrauen zu mündigen Bürger*innen werden.

Die Absenkung des aktiven und passiven Wahlalters ist folglich auch deshalb dringend nötig, weil dadurch junge Menschen ihr Wahlrecht – aktiv und passiv – als eine Erfahrung der Selbstwirksamkeit erleben können. Und dies umso mehr, weil Jugendliche damit einerseits eine Stimme bekommen, um die Parteien und Wahlvereinigungen konkurrieren und sie dazu bringen werden, Jungwähler*innen thematische Wahlangebote zu machen. Andererseits können junge Kandidat*innen ihre Themen, Positionen und Sichtweisen direkt in den politischen Wettbewerb einspeisen.
 

Notwendige Begleitmusik, Strophe 1 – eine überparteiliche Erstwähler*innen-Kampagne

Nicht nur aber insbesondere bei Erstwähler*innen ist politische Bildung wichtig. Sie ist dabei keinesfalls als formale Bildung mit anschließender Reifeprüfung zu verstehen, an die das Wahlrecht zu knüpfen wäre.

Eine intensive politische Bildung unterstützt (Erst-)Wähler*innen dabei, Wahlentscheidungen verantwortungsbewusst zu treffen. Mit der Wahlaltersenkung auf 16 Jahre werden schulpflichtige Bürger*innen zu Erstwähler*innen. Die politische Bildung an Schulen wird sich darauf einstellen müssen. Allein das formale Bildungssystem damit zu beauftragen, wird jedoch bei weitem nicht genügen. Demokratie kann nicht nur an Tafel oder Whiteboard vermittelt werden, sondern sie muss vor allem erlebt werden.

Jugendverbände sind Werkstätten der Demokratie. Hier erlernen und erleben Kinder und Jugendliche demokratische Prozesse, von der Verantwortungsübernahme in der Jugendgruppe bis zur Wahl einer Landes- und Bundesjugendleitung. Mit politischer Bildung sind auch deshalb Jugendverbände und -ringe nach § 11 SGB VIII und § 14 LKJHG beauftragt. Um diesem Auftrag politischer Bildung gerecht zu werden, müssen Jugendverbände und -ringe aber nicht nur gesetzlich beauftragt, sondern auch finanziell und personell ausgestattet werden.

Zur Umsetzung des politischen Bildungsauftrags kommt der Servicestelle Kinder- und Jugendbeteiligung Baden-Württemberg eine besondere Rolle zu. Sie wird vom Landessozialministerium gefördert und getragen vom Landesjugendring, der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung und der Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit.

Seit Anfang 2024 bietet die Servicestelle Kinder- und Jugendbeteiligung auf 90 Minuten konzipierte Workshops für Einrichtungen und Organisationen mit jungen Menschen an, die von engagierten jungen Multiplikator*innen Peer-to-Peer durchgeführt werden. Die Workshops vermitteln lebensweltbezogen Wissen rund um die Kommunalwahlen und Kommunalpolitik. Junge Menschen sollen für sich selbst eine Antwort finden, warum sie wählen gehen. Anhand einer fiktiven Probewahl wird der Wahlgang durchgespielt und natürlich wird dabei kumuliert und panaschiert.

Für Erstwähler*innen hat die Servicestelle Kinder- und Jugendbeteiligung außerdem zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung 2023 ein Bündnis geschmiedet. Im Bündnis „Junge Kommunalwahl ’24“ haben sich bisher 25 Organisationen mit dem Ziel zusammengeschlossen, die knapp 1,4 Millionen jungen Menschen zwischen 16 und 27 Jahren über ihr aktives Wahlrecht zu informieren und zu motivieren, dieses Wahlrecht auszuüben. Mit gezielten Angeboten und Aktivitäten wollen die Mitglieder des Bündnisses junge Menschen über ihr aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen informieren.
 

Notwendige Begleitmusik, Strophe 2 – Begleitung und Vernetzung junger Kandidat*innen/ Mandatsträger*innen

Nachdem Baden-Württemberg als erstes Bundesland die Altersgrenze des passiven Wahlrechts auf kommunaler Ebene abgesenkt hat, muss es Ziel sein, bei den Kommunalwahlen mehr junge Menschen in Wahlämter zu bekommen. Dabei ist mir ist selbstverständlich bewusst, dass ein passives Wahlrecht ab 16 Jahre nicht umgehend viele junge Mandatsträger*innen in die politischen Gremien bringen wird. Umso mehr braucht es ein überparteiliches passgenaues Coaching zur Unterstützung, Förderung und Vernetzung junger Menschen als Kandidati*innen und später Mandatsträger*innen. Dieses Coaching umfasst idealerweise nicht nur der 16- bis 18-Jährigen, sondern die junge Generation von 14-26 Jahren, in die diese Alterskohorte eingebettet ist.
 

Das dicke Brett bohren

Damit junge Menschen Wahlämter übernehmen, bedarf es darüber hinaus Veränderungen politischer Strukturen und Prozesse. Kommunalverwaltungen, Kommunalpolitiker*innen, Wählervereinigungen und Parteien werden sich damit auseinandersetzen müssen, wie Gremiensitzungen und Arbeitsabläufe so ausgestaltet werden, dass sie für junge Menschen zugänglich sind. Zentral wird dabei sein, mit und nicht für jungen Menschen diese Veränderung anzugehen.

Das fängt bei der Attraktivität durch Sitzungsgestaltung an: Zu welcher Tageszeit finden sie statt? Kann man auch virtuell an einer Sitzung teilnehmen? Muss die Sitzungsdauer als Marathon ausgelegt bleiben? Wie wird thematisch Überfrachtung vermieden? Ebenso stellt sich die Frage, ob für alle Entscheidungen Aktenberge durchwühlt werden müssen oder eher an der Qualität von Entscheidungsvorlagen gearbeitet werden kann. Ist jemand da, der jugendlichen Räten erklärt, was sie nicht wissen? Ist gewährleistet, dass junge Räte auch zu Wort kommen?

Das „Spielfeld Gemeinderat“ neu zu ordnen, wird allen Mandatsträger*innen zugutekommen. Und es wird dazu beitragen, dass sich mehr Bürger*innen zur Kandidatur für die kommunalen Gremien bereitfinden. Die Aussicht auf „Ehre“ allein wird zumindest den jungen potenziellen Kandidat*innen nicht mehr als Motivation genügen. Neue Anreize oder ihre Neugewichtung werden wichtig sein.

Kurzum: Es gilt, das dicke Brett der politischen Kultur anzubohren. Die Wahlaltersenkung bei der Wählbarkeit von kommunalen Abgeordneten ist dafür eine Chance. Diese sollte tatkräftig ergriffen werden angesichts geringer Wahlbeteiligung und schwieriger Kandidat*innen-Suche auf kommunaler Ebene.

Jürgen "Buddy" Dorn ist Geschäftsführer des Landesjugendrings Baden-Württemberg e.V.
Schlagworte: Wahlen
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