Das Ehrenamt stellte Tausende Einsatzkräfte

5 Tage Unwetter im Landkreis Göppingen

Anfang Juni 2024 wurde der Landkreis Göppingen über fünf Tage hinweg von einem schweren Unwetter getroffen. Nach tagelangem Dauerregen kam es zu weiteren Starkniederschlägen mit lokal bis zu 200 mm Regen innerhalb weniger Stunden. Zur Schadensabwehr waren Tausende ehrenamtliche Kräfte eingesetzt. Eine derartige Lage erfordert auf Kreisebene eine entsprechende Unterstützung und Koordination.
Prof. Dr.-Ing. Michael Reick · Landkreis Göppingen · 11. Oktober 2024
Bad Ditzenbach
Bad Ditzenbach
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Die Unwetterlage Anfang Juni 2024 war schlimm für die betroffene Bevölkerung und für die Gemeinden mit ihren Freiwilligen Feuerwehren. Damit war es auch für die Leitstelle, den Führungsstab der Feuerwehren des Landkreises und die Verwaltungen über fünf Tage hinweg eine echte Bewährungsprobe. Trotz verbessertem Hochwasserschutz entlang der Fils sowie an etlichen Zuflüssen muss uns bewusst sein, dass bei lokalen extremen Starkregenfällen auch kleinere Bäche deutlich über die Ufer treten können bzw. Oberflächenwasser aus Hanglagen in bebautes Gebiet laufen wird und Menschen, Tiere und erhebliche Sachwerte gefährdet sind.
 

Kurzfristige Vorbereitung: Sandsäcke füllen und Kommunikationsstruktur testen

Neben ersten hochwasserbedingten Einsätzen der Feuerwehren wurden am Freitag, den 31.05.2024 bereits Tausende Sandsäcke abgefüllt, die Personalverfügbarkeit geprüft und die Kommunikationsstruktur vorbereitet. Entscheidungen können nur so gut sein wie die Informationen, auf denen sie beruhen. Neben Telefon- und Funkgesprächen müssen hier auch qualifizierte Lagemeldungen zu einem Lagebild auf Kreisebene führen. Das seit der Covid-Pandemie übliche Medium der Videokonferenz kann ebenfalls als Option für Lagebesprechungen bei einer dezentralen Großschadenslage genutzt werden – solange diese Technik funktioniert.

Krisenkommunikation: Videokonferenz des Feuerwehr-Führungsstabes
Krisenkommunikation: Videokonferenz des Feuerwehr-Führungsstabes
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Krisenkommunikation: Videokonferenz des Feuerwehr-Führungsstabes
Krisenkommunikation: Videokonferenz des Feuerwehr-Führungsstabes
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Expertenrat ist gefragt: Bewertung von Wetter- und Pegelprognosen

Über fünf Tage hinweg standen Experten des Umweltschutzamtes im Landratsamt Göppingen den Feuerwehrkommandanten zur Verfügung und interpretierten die Niederschlagswerte und – prognosen sowie die hieraus zu erwartenden Pegelstände und Überflutungsgebiete. Aufgrund der schwierigen Vorhersagbarkeit lokaler Starkregenfälle waren die Prognosen zwar mit Unsicherheit verbunden und existierten letztlich nur für die Fils als größtes Fließgewässer im Landkreis Göppingen, dennoch waren dies wichtige Informationen um den Einsatz der verfügbaren Ressourcen im Landkreis auch im Hinblick auf die „Dinge, die noch kommen könnten“ richtig einzuschätzen. 

HW100: Erste Prognose und tatsächlicher Verlauf des Filspegels in Salach über die 5 Tage. Am ersten Tag des Hochwassers war die Prognose für die Fils noch ein 30-jähriges Hochwasser - es entwickelte sich dann jedoch rasch zu einem statistisch betrachtet 100-jährigen Hochwasser - gefolgt von zwei weiteren fast vergleichbaren Höchstständen am Folgetag.
HW100: Erste Prognose und tatsächlicher Verlauf des Filspegels in Salach über die 5 Tage. Am ersten Tag des Hochwassers war die Prognose für die Fils noch ein 30-jähriges Hochwasser - es entwickelte sich dann jedoch rasch zu einem statistisch betrachtet 100-jährigen Hochwasser - gefolgt von zwei weiteren fast vergleichbaren Höchstständen am Folgetag.
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Die Auswertung von Lagemeldungen der Gemeinden in Schadenskonten, die Lagedarstellung nach Verifikation der Meldungen, die Abstimmung, Anforderung und der Einsatz umfangreicher externer Kräfte wurde über fünf Tage hinweg im Führungsstab geplant und koordiniert. Neben rund 1400 Einsatzkräften der Feuerwehren waren rund 300 Kräfte des THWs und 50 Kräfte des Rettungsdienstes über die fünf Tage hinweg eingesetzt. Die Kräfte des THWs wurden den örtlichen Einsatzleitungen zugewiesen sowie zentral von einer in den Stab integrierten Führungsstelle koordiniert.

Führungsstab der Feuerwehr mit Beteiligung von THW, Polizei, Rettungsdienst, Bundeswehr und Verwaltung - besetzt über fünf Tage hinweg
Führungsstab der Feuerwehr mit Beteiligung von THW, Polizei, Rettungsdienst, Bundeswehr und Verwaltung - besetzt über fünf Tage hinweg
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Extreme Überschwemmungen in Ebersbach an der Fils mit zahlreichen Menschenleben in Gefahr

Nach drei Tagen heftigem Regen mit Hunderten Einsatzstellen auf Kreisebene hat eine weitere extreme Regenzelle die Städte Uhingen sowie im Besonderen die Stadt Ebersbach an der Fils getroffen. Die kleine Sulpach hatte sich zu einem reißenden Fluss verwandelt und Fahrzeuge und Tiere mitgerissen. Auch um das Leben zahlreicher Menschen musste viele Stunden lang gebangt werden – glücklicherweise waren letztlich aber keine Menschenleben zu beklagen. Aufgrund der Dunkelheit konnte keine Luftrettung eingesetzt werden, mit zahlreichen Booten und entsprechenden Fahrzeugen wurden aber über 30 Menschen aus ihren Häusern gerettet. Einige Straßenbereiche in Ebersbach wurden bis zu drei Meter überflutet. Eine Evakuierung zahlreicher Gebäude war notwendig und es wurde für mehrere Hundert Menschen eine Notunterkunft vorbereit. Hierzu wurden die Betreuungseinheiten des Katastrophenschutzes eingesetzt. Eine massive überörtliche Unterstützung mit Dutzenden weiteren Fahrzeugen war die gesamte Nacht im Einsatz. Weiterhin wurden zur Unterstützung der örtlichen Einsatzorganisation auch Führungseinheiten aus benachbarten Landkreisen angefordert. Die B10 wurde massiv überflutet und war letztlich für mehrere Tage in beiden Fahrtrichtungen gesperrt.

Wenige Stunden nach der Starkregenzelle über Uhingen und Ebersbach bildete sich eine weitere Starkregenzelle über Eislingen/Fils, dessen Ortsteil Krummwälden sowie über der Gemeinde Ottenbach. Die Krumm, ein eigentlich kleiner Bach, welcher in Eislingen in die Fils mündet, trat aufgrund des dort auftretenden HQ-Extrem (also deutlich über einem HQ100) ebenfalls sehr schnell großflächig über die Ufer. Wasser drückte meterhoch aus Kanälen auf die Straßen, eine Person musste von der Feuerwehr aus einer überfluteten Garage gerettet werden. Auch hier wurde die örtliche Feuerwehr verstärkt durch umfangreiche Kräfte des THWs.

Lagemeldungen, Gespräche und Videokonferenzen sind wichtige Mittel der Informations­gewinnung in der Krise. Der persönliche Eindruck vor Ort während der heißen Phase aber auch in der Phase des abklingenden Hochwassers vermittelt einen Eindruck der Dramatik. In Ebersbach an der Fils war selbst das Feuerwehrhaus unter Wasser gestanden und hat die Hilfeleistung durch die örtliche Feuerwehr zusätzlich erschwert.

Von Sonntagnacht bis Montagabend wurde im Landkreis aufgrund der vorstehend beschriebenen Lage die außergewöhnliche Einsatzlage nach Landeskatastrophenschutzgesetz festgestellt. In der schwierigsten Phase des Hochwassers waren Landrat Edgar Wolff mit Bezirksbrandmeister Adrian Wibel persönlich im Führungsstab und auch in Ebersbach und Uhingen vor Ort. Auch Ministerin Razavi, Innenminister Strobl und Landtagsabgeordnete verschafften sich ein persönliches Bild der Lage.

 

 

Lageerkundung und Präsenz vor Ort politischer Vertreter an den Einsatzstellen
Lageerkundung und Präsenz vor Ort politischer Vertreter an den Einsatzstellen
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Von Freitag, 31.05.2024 bis Mittwoch, 05.06.2024, waren zusammenfassend folgende Kräfte und Einheiten im Einsatz:

  • Alle 38 Gemeindefeuerwehren mit dokumentierten Einsätzen im eigenen Gebiet beziehungsweise zur Überlandhilfe
  • rund 1.400 Einsatzkräfte der Feuerwehren des Landkreises, direkt unterstützt durch rund 160 in die Feuerwehrarbeit integrierte Helfer
  • 170 Feuerwehrfahrzeuge aus dem Landkreis Göppingen
  • 30 Feuerwehrfahrzeuge aus den benachbarten Landkreisen Esslingen, Alb-Donau-Kreis, Heidenheim und der Stadt Stuttgart
  • rund 100 Fahrzeuge von Bauhöfen und Firmen, sowie Dutzende Traktoren von Landwirten
  • Spezialkräfte wie Strömungsretter, Bootsführer und Drohneneinheiten zur Lageerkundung
  • rund 300 Einsatzkräfte des THW mit rund 40 Fahrzeugen, 30 Trupps und Gruppen aus 18 Ortsverbänden aus ganz Baden-Württemberg
  • rund 50 Einsatzkräfte des DRK und der Malteser in den Betreuungseinheiten
  • es ergaben sich rund 600 Einsatzstellen mit dokumentierter Tätigkeit der Hilfskräfte (Einsatzstellen mit reiner Erkundung wurden nicht erfasst)
  • über 40.000 Sandsäcke wurden kurzfristig im Landkreis abgefüllt, überörtlich verteilt und teilweise sogar mehrfach verwendet
  • der Feuerwehr-Führungsstab war über vier Tage hinweg personell besetzt mit in der Spitze bis zu 15 Kräften der Feuerwehr, 5 Verbindungspersonen sowie bis zu 15 Personen des THW

Vorstehend dargestellt sind die über die Feuerwehren, örtlichen Einsatzleitungen bzw. den Feuerwehr-Führungsstab angeleiteten Einheiten. Die darüber hinaus umfangreiche Nachbarschaftshilfe ist in den vorstehenden Zahlen nicht enthalten und wurde an vielen Stellen in erheblichem Umfang beobachtet. 

Erkenntnisse aus einer derartigen Hochwasserlage für einen Landkreis

  • Die Feuerwehren können örtlich und überörtlich mit beachtlicher Kräfteanzahl eingesetzt werden und Hilfe leisten, eine Vorhaltung der entsprechenden Gerätschaften (insbesondere Sandsäcke, Schutzsysteme und Pumpen) vorausgesetzt. Dies kann die Not vielerorts lindern und Menschen, Tiere und erhebliche Sachwerte schützen. Die überörtliche Zusammenarbeit und die Integration des THWs in das System haben sehr gut funktioniert. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir ein ehrenamtliches System in dieser Form haben.
  • Auf Kreisebene ist ein Führungsstab erforderlich, der personell und technisch ausreichend ausgestattet sein muss. Die Umsetzung der fachtechnischen Bewertung muss durch die Verwaltungen unterstützt werden.
  • Eine derartige Wetterlage mit unklarer Verlaufsprognose ist im Hinblick auf das Ressourcenmanagement (von Einsatzkräften über Fahrzeuge und Pumpen bis hin zu Sandsäcken) anspruchsvoll. Eine fachlich gute meteorologische Beratung und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit innerhalb des Führungsstabes und der Verwaltungen sind daher Grundlage für einen effektiven Einsatz des Gesamtsystems.
  • Der Informationsfluss in der Leitstelle (Überlauf des Notrufs 112, Annahme und Weitergabe an die Gemeindefeuerwehren) sowie zwischen Führungsstab, den Gemeindefeuerwehren und den Verwaltungen muss funktionieren und technisch vorbereitet sein. Der Aufwand hierfür steigt enorm, wenn ein Einsatz über mehrere Tage hinweg geht und dadurch im Schichtbetrieb gearbeitet werden muss.
  • Die Arbeit der Gemeindeverwaltungen und die daraus resultierenden konkreten materiellen Anforderungen an den Führungsstab können sehr unterschiedlich sein. Wenn die Informations-Hol-und-Bring-Pflicht nicht mehr in Balance ist, gilt es regelnd einzugreifen.
  • Entscheidungen beruhen auf Informationen. Die Kommunikationsstruktur muss daher funktionieren. Die im Landkreis Göppingen bei diesem Einsatz genutzte Kombination aus I) schriftlichen Lagemeldungen der Gemeinden per Telefax, II) Videokonferenzen der Feuerwehren in der Art von Lagebesprechungen und III) persönlicher Abstimmung und Verifikation der Schadenskonten hat sehr gut funktioniert. Dies gelang jedoch nur, weil das Medium der Videokonferenzen auch sonst regelmäßig genutzt wird.

Im Nachgang betrachtet kann sich unsere Gesellschaft glücklich schätzen, ein derart leistungsfähiges und hierbei überwiegend von Ehrenamtlichen getragenes Hilfeleistungssystem zu haben. Wir sollten die Rahmenbedinungen dafür schaffen, dass dies so erhalten werden kann.

Prof. Dr.-Ing. Michael Reick ist Kreisbrandmeister des Landkreises Göppingen sowie Fachgebietsleiter Vorbeugender Brand- und Gefahrenschutz und Vorstandsmitglied des Landesfeuerwehrverbandes Baden-Württemberg e.V.
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