In den vergangenen Jahren wurde deutlich, wie unerwartet, heftig und bestürzend Krisenereignisse unser Leben von einem auf den anderen Moment auf den Kopf stellen können. Der Landkreis Böblingen geht neue Wege, um seinen Bevölkerungsschutz schlagkräftig und zukunftsorientiert dagegen zu setzen.
Durch das Abflauen des Kalten Kriegs und viele Jahre mit nur wenigen größeren Schadensereignissen geriet der Bevölkerungsschutz vielerorts aus dem Blick. Spätestens die dicht aufeinander folgenden Ereignisse Corona-Pandemie, Überflutungen im Ahrtal, Ukrainekrieg mit drohender Energiemangellage sowie die jüngsten Starkregenereignisse in Rheinland-Pfalz, Bayern und Baden-Württemberg zeigten auf, welche zentrale Rolle der Bevölkerungsschutz für unsere heutige, an vielen Stellen vulnerable Gesellschaft spielt.
Der Landkreis Böblingen analysiert Risiken und Schwachstellen, um den Bevölkerungsschutz neu auszurichten
Bereits 2019 – also knapp vor den großen Krisen – hat sich der Böblinger Kreistag für eine grundlegende Untersuchung und Neuausrichtung des Bevölkerungsschutzes ausgesprochen. Anhand einer kreisweiten Risiko- und Schwachstellenanalyse wird gemeinsam mit der beauftragten antwortING Beratende Ingenieure PartGmbB aus Köln ermittelt, welche Schadensszenarien für den Landkreis Böblingen die weitreichendsten Folgen hätten und was der Bevölkerungsschutz dem aktuell entgegensetzen kann. Aus den Ergebnissen dieses Soll-Ist-Vergleichs werden grundlegende Erkenntnisse für die zukünftige Ausrichtung und die Bedarfe im Bevölkerungsschutz gewonnen. Der Begriff Bevölkerungsschutz wird an dieser Stelle sehr weit gedacht: Nicht nur die klassische „Blaulichtfamilie“, sondern mit ihr auch die Verwaltungen sowie die Betreiber Kritischer Infrastrukturen werden in den Blick genommen. Dies spiegelte sich auch in den mehr als einhundert Gefährdungen wider, die auf ihre individuelle Eintrittswahrscheinlichkeit und das prognostizierte Schadensausmaß im Landkreis Böblingen hin untersucht wurden. Aus diesen wurden für die detailliertere Untersuchung sechs Schadensszenarien aus den verbreiteten Kategorien gesellschaftliche, technische und Naturgefahren ausgewählt:
Ausgehend von diesen Szenarien wird untersucht, wie gut der Landkreis auf die Schadensszenarien vorbereitet ist und welche weiteren Schritte notwendig sind, um die Resilienz zu erhöhen. Die Untersuchung basiert auf der Methodik „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz“ des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Der Clou an der Methodik: Die Auswahl der Szenarien ist weit gefächert, sodass sich aus der Schnittmenge der jeweils abgeleiteten Maßnahmen die wichtigsten Optimierungspotenziale ergeben.
Keine Zeit verlieren - bekannte Optimierungen werden bereits parallel zur Analyse umgesetzt
Im Landkreis Böblingen geht man aber noch einen Schritt weiter: Parallel zur eigentlichen Analyse werden bereits bekannte Problemstellungen angegangen. So werden zeitgleich zur laufenden Analyse bereits die ersten Optimierungsmaßnahmen umgesetzt. Gemeinsam mit der hierfür beauftragten KomRe AG aus Berlin wird je Stadt oder Gemeinde ein eigener, auf die örtliche Situation zugeschnittener Notfallplan erarbeitet. Basierend auf einer zentralen Datenerhebung werden in gemeinsamen Terminen mit Vertretern der Stadt oder Gemeinde, dem Landkreis sowie der KomRe AG die zentralen Themen und Inhalte der jeweiligen Notfallplanungen erarbeitet. Ziel ist ein Rahmenwerk von zugleich kommunal zugeschnittenen, wie auch strukturell und inhaltlich einheitlichen Notfallplanungen für den gesamten Landkreis, sodass auch bei interkommunaler Unterstützung in der Krise oder beim Zuständigkeitsübergang an den Landkreis im Katastrophenfall ein einheitliches Vorgehen und Planwerk gewährleistet ist.
Darüber hinaus wurden die Themenstellungen Krisenkommunikation, Logistik einsatzkritischer Ressourcen (insbesondere Kraftstoff) und Notfalltreffpunkte als zentrale Felder erkannt, in denen zum einen Unterstützungsbedarf besteht, zum anderen ein kommunenübergreifend einheitliches Vorgehen für den Erfolg relevant ist. Diese Themenstellungen werden bezogen auf die örtlichen Gegebenheiten konzeptionell für den Landkreis Böblingen ausgearbeitet.
Die Risiko- und Schwachstellenanalyse wird im kommenden Jahr abgeschlossen. Als großer Zugewinn zeigt sich bereits heute die Etablierung eines politischen Steuerungskreises sowie eines fachlichen Arbeitskreises Bevölkerungsschutz. Beide Gremien sind mit Vertretern der Städte und Gemeinden sowie des Landkreises besetzt. Durch die hohe Fachkompetenz sowie die umfangreichen Erfahrungen aus der täglichen Arbeit geben sie den Rahmen, um die zentralen Entscheidungen im Projekt zu treffen sowie einen ebenenübergreifenden Austausch zu Themen des Bevölkerungsschutzes zu etablieren. Damit wird der maximale Nutzen aus dem Projekt gezogen und zugleich eine Arbeitsebene geschaffen, in der die aktuellen Themen des Bevölkerungsschutzes gemeinsam angegangen werden können.
Kreisweites Sirenennetz mit der optionalen Möglichkeit für Sprachdurchsagen als zentrales Instrument für die Bevölkerungswarnung
Als weiterer zentraler Baustein für einen zeitgemäßen Bevölkerungsschutz identifizierte die Kreisverwaltung die Bevölkerungswarnung und -information. Cell-Broadcasting, Radio- und Fernsehdurchsagen sowie die Warnapps für mobile Endgeräte sind aktuell die gängigen Kanäle, um die Bevölkerung vor Gefahren zur warnen. Doch im Fall eines Strom- oder Mobilfunkausfalls oder bei Nacht sind diese Warnsysteme nicht funktionsfähig und/oder die betroffenen Menschen können weder über die Gefahr noch über notwendige Maßnahmen informiert werden. Im Landkreis Böblingen werden daher künftig wieder Sirenen installiert, um die Bevölkerung unabhängig von anderen Medien schnell und zuverlässig zu warnen. Dabei handelt es sich nicht um ein traditionelles Sirenensystem: Die Sirenen sind redundant alarmierbar, über Wochen notstromversorgt und optional – je nach Votum der Gemeinderäte – mit der Möglichkeit für Sprachdurchsagen ausgestattet.
Der Hauptunterschied zwischen einem Netz ohne und mit Sprachdurchsage besteht dabei in der Dichte der Sirenen: Der reine Warnton ist deutlich weiter hörbar als die über die Sirene ausgegebene Sprache; deshalb wird für die Sprachdurchsage ein engmaschigeres Netz an Sirenen benötigt. Die Technik bleibt im Großen und Ganzen dieselbe. Durch die höhere Anzahl an Sirenen steigen aber die Kosten – je nach örtlicher Topographie und Bebauung. Im Landkreis Böblingen haben sich zwei Drittel der Kommunen für ein Sirenennetz mit Sprachdurchsage ausgesprochen; die übrigen sehen aus Kostengründen ein Netz ohne Sprachdurchsage vor. Nur eine Gemeinde beteiligt sich aktuell nicht am kreisweiten Projekt.
Durch das kreisweit einheitliche Vorgehen werden bessere Preiskonditionen durch die hohe Stückzahl erwartet. Weit wichtiger wiegt aber der Umstand, dass eine einheitliche Öffentlichkeitsarbeit möglich wird und die Bevölkerung wieder zentral und einheitlich über Sirenensignale und daraus notwendige Handlungskonsequenzen informiert wird. Die Rahmenkriterien wurden und werden auch hier von den ebenenübergreifenden Gremien Steuerungs- und Arbeitskreis Bevölkerungsschutz (s.o.) erarbeitet. Die Kosten werden geteilt: Während der Landkreis die Planungskosten trägt und einheitliche Technik, Vergabe und Alarmierungsvoraussetzungen verantwortet, werden die eigentlichen Sirenen durch die Gemeinden finanziert. Das gemeinsame Vorgehen trägt sowohl der Katastrophenvorsorge als auch der Daseinsvorsorge der Bevölkerung Rechnung.
Operativer Bevölkerungsschutz: Neuer Einsatzleitwagen 2
Neben den verwaltungslastigen Themen Risiko- und Schwachstellenanalyse und Sirenennetz bedient der Landkreis Böblingen aber auch die einsatzoperativen Themen unserer Zeit: Mit der Beschaffung eines neuen Einsatzleitwagen 2 (ELW2) werden neue Wege für die örtliche bzw. technische Einsatzleitung gegangen. Das neue Fahrzeug kombiniert die nach DIN vorgesehene und verbreitete kommunikationstechnische Ausstattung und Räumlichkeiten für eine Führungsgruppe oder einen -stab mit den Potenzialen einer Integrierten Leitstelle (ILS). Zugleich wird mit dem Fahrzeug eine Redundanz für die Räumlichkeiten der ILS geschaffen, sodass im Falle des Ausfalls des Gebäudes die Notrufannahme sowie die Alarmierung und Disposition der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr aus dem ELW2 ausgeführt werden können.
Die Beschaffung des neuen ELW2 war ein bedeutender Schritt in der Weiterentwicklung der Sicherheitsinfrastruktur im Landkreis Böblingen. Das Fahrzeug steigert nicht nur die Effizienz großer Einsätze, sondern auch die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Hilfsorganisationen und Behörden. Die Investition in dieses Fahrzeug ist ein Zeichen unseres Engagements für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in unseren Landkreis-Gemeinden und darüber hinaus, denn das Fahrzeug kann auch andernorts eingesetzt werden. Der ELW2 ist das wichtigste Fahrzeug für Feuerwehr und Bevölkerungsschutz im Landkreis Böblingen und setzt einen Meilenstein in puncto Technik und Ausstattung.
Das Gesamtkonzept für das Fahrzeug ist durchdacht und technisch wohl überlegt. Es ist kein Fahrzeug „von der Stange“. Vielmehr ging der Bauphase eine lange und intensive Planungsphase voraus. Es ist als Ergebnis der Zusammenarbeit der gesamten Stabsstelle zu sehen: Das Innenleben des Sattelaufliegers ist in drei Räume aufgeteilt: Den Sichterraum, der zugleich den Eingangsbereich bildet. Den Besprechungsraum, der mit einem Besprechungstisch Platz für einen Führungsstab bietet. Und nicht zuletzt den Funkraum, worin separat schall- und wärmegedämmt die Netzwerk- und Funktechnik untergebracht ist.
Alle Räume sind mit Türen getrennt, sodass die notwendige Ruhe für jeden Arbeitsbereich gewahrt werden kann. Eine angenehme Arbeitsumgebung wird durch die Ausstattung ermöglicht. So verfügen die Raumdecken über Schallschutzelemente und jeder Arbeitsplatz ist gut beleuchtet. Selbstverständlich sind alle Räume auch mit Klimageräten ausgestattet bzw verfügen über Heizkörper, um bei sehr kalten Außentemperaturen die Räume schnell warm zu bekommen. Tageslicht und Frischluft kommen primär über die in jedem Raum befindlichen Fenster ins Fahrzeug.
Das Fahrzeug ist mit modernster Kommunikationstechnik ausgestattet. Dazu zählen neben dem Digitalfunk (TETRA BOS) vor allem zwei Satellitenkommunikationssysteme und die Anbindung an alle drei großen Mobilfunknetze. Damit die Leitstelle direkt aus dem Fahrzeug arbeiten kann, ist neben einem Serverabbild der Leitstelle auch eine Alarmierungseinheit für das POCSAG-Netz verbaut. Technisch ist trotz der begrenzten Platzverhältnisse, die ein Fahrzeug mit sich bringt, alles redundant aufgebaut, sodass die Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls auf ein absolutes Minimum reduziert wird. Außerdem ist in der Zugmaschine des Sattelzugs ein Stromgenerator verbaut, der das Fahrzeug autark mit Strom versorgen kann. Alternativ kann auf andere Stromquellen zurückgegriffen werden.
Besetzt und bedient wird das Fahrzeug von verschiedenen Personengruppen. Zugeführt wird es von der kreisangehörigen Feuerwehr Magstadt. Für den technischen Betrieb und den Sichterplatz zeichnet die Regieeinheit, das sogenannte „ELW2-Team“ des Landkreises, verantwortlich. Dieses setzt sich aus Mitarbeitenden aller Bereiche des Landratsamtes unter der Federführung der Stabstelle Bevölkerungsschutz und Feuerwehrwesen zusammen. Es arbeiten immer auch Leitstellen-Disponenten im Fahrzeug. Hierdurch werden im Falle von Großschadenslagen die Möglichkeiten der verschiedenen Stellen gebündelt, sodass beispielsweise alle den Einsatz direkt betreffenden Themen von der Einsatzstelle abgearbeitet werden können, während die reguläre ILS die weiterhin bestehende „Grundlast“ an Notrufen und Einsätzen bedient.
Der Führungsstab wird aus speziell für die Stabsarbeit ausgebildeten Angehörigen der Feuerwehren, des Rettungsdienstes, der Sanitäts- und Betreuungsdienste, der DLRG sowie des THW besetzt. Die Leitstellenfunktionen werden, wie oben beschrieben, von regulären ILS-Disponenten besetzt.
Länge: 14,75 m
Höhe: 3,75 m
Breite: 2,55 m
Zul. Gesamtmasse: 16 to (Leermasse 14,85 to)
Leistung: 250 PS
Operativer Bevölkerungsschutz: Neugründung Regieeinheit Veterinärzug
Bei allem Fortschritt gilt es auch, die bestehenden und bewährten Kapazitäten der Gefahrenabwehr zu erhalten. Im Bereich der Tierseuchen wie „Vogelgrippe“/ „Geflügelpest“, BSE „Rinderwahn“, Maul-und-Klauenseuche sowie in unseren Bereichen aktueller denn je der Afrikanischen Schweinepest (ASP) gilt dies auch für seltene Katastrophenschutzeinheiten wie Veterinärzüge.
Veterinärzüge sind für die Bekämpfung von Tierseuchen konzeptioniert. Sie sind amtstierärztliche Katastrophenschutzeinheiten, die als sogenannte „Regieeinheiten“ direkt an den Landkreisen angegliedert sind. Aktuell gibt es bundesweit vier Veterinärzüge, davon drei in Baden-Württemberg.
Als der Veterinärzug Schwäbisch Hall vor wenigen Jahren vor der Auflösung stand, konnte für ihn im Landkreis Böblingen 2023 eine neue Heimat gefunden werden. Im Schulterschluss zwischen Veterinär- und Katastrophenschutzbehörde war man sich einig, dass eine solche Einheit nicht untergehen darf und man sich am Neuaufbau eines Personalstamms versuchen will. Dieser Versuch ist gelungen: In wenigen Monaten hat sich ein sehr aktiver und motivierter Mitgliederstamm gebildet, der stetig wächst. Alle Mitglieder des Veterinärzugs bringen Erfahrung sowohl aus dem Blaulichtbereich als auch im Umgang mit Tieren mit, sodass bereits heute eine schlagkräftige Mannschaft für die Einsatzfelder zur Verfügung steht. Auch die technische Ausstattung wird zum Ende des Jahres ein Niveau erreicht haben, das die eigenständige Abarbeitung vielerlei Einsatzlagen ermöglicht. Die ersten Einsätze konnten bereits erfolgreich abgearbeitet werden.
Organisatorisch sind die Veterinärzüge der Task Force Tierseuchenbekämpfung am Regierungspräsidium Tübingen zugeordnet. Über diese können sie bei Bedarf angefordert werden.
Wir freuen uns über Ihr Interesse an den ausgeführten Themen. Sollten Sie Rückfragen oder Interesse an einem kreisübergreifenden Austausch hierzu haben, freuen wir uns über Ihre Nachricht an bevoelkerungsschutz@lrabb.de.