Ist eine Krise eine Katastrophe? Das Situationsbewusstsein als Katastrophenschutzbehörde
Landkreise übernehmen in Baden-Württemberg die Aufgabe der Unteren Katastrophenschutzbehörde. Daher ein kurzer Blick ins Gesetz: Katastrophen sind Ereignisse, die Menschen, Tiere, Umwelt, erhebliche Sachwerte oder die Versorgungsgrundlage der Bevölkerung bedrohen. Zusätzlich zeichnet sich ab, dass die Alltagsstrukturen von Polizei, Rettungsdienst und Feuerwehr mit den ihnen gesetzlich übertragenen Aufgaben nicht mehr ausreichen, um erfolgreich Mensch, Tier und Umwelt zu schützen. Hier nimmt das Landeskatastrophenschutzgesetz die Landkreise in die Pflicht, die Situation zu erkennen, die Katastrophe also festzustellen, und die Leitung der Gefahrenabwehrmaßnahmen zu übernehmen.
Damit ist auch klar: Der Enzkreis hat die Aufgabe, die Situation vor einer Katastrophe wahrzunehmen, zu bewerten und zu entscheiden, ob eine einheitliche Leitung erforderlich wird. Dieses Situationsbewusstsein ist nicht nur bereits vor einer Katastrophe notwendig, sondern auch in der täglichen Arbeit nützlich, um unvorhergesehene Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen und „vor der Lage“ zu bleiben.
Führungsstab - Expertinnen und Experten für Maßnahmen vor Ort
Im Enzkreis wird der Führungsstab von weitgehend ehrenamtlich tätigen Personen mit Erfahrung aus Hilfsorganisationen, Technischem Hilfswerk, Feuerwehren und der Bundeswehr gebildet. Unter Leitung des Kreisbrandmeisters, der im Katastrophenfall auch als Technischer Leiter vorgesehen ist, koordiniert und leitet der Führungsstab die Einsatzmaßnahmen im Schadensgebiet im Auftrag der Behördenleitung.
Seit 2021 nehmen Angehörige des Führungsstabes wieder regelmäßig an Fortbildungen und Übungen teil, die durch Schulungen an der „Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und zivile Verteidigung“ (BABZ) ergänzt werden. Unmittelbar im Anschluss an das erste Seminar „Führung und Stabsarbeit für untere Katastrophenschutzbehörden“ wurde dem Enzkreis die Teilnahme am Programm „nachhaltige Stabsarbeit“ angeboten. Das Programm läuft über die Dauer von etwa drei Jahren. Dabei werden Führungs- sowie Verwaltungsstab durch Workshops, Schulungen und Übungen auf eine gemeinsame Abschlussübung hingeführt. Wegweisend war die Entscheidung der Hausspitze, mit beiden Stabsgremien diese Chance zu nutzen und von professioneller Begleitung zu profitieren.
Zurück zum Führungsstab: In den Übungen werden Lagen angenommen, die zu einem Katastrophenereignis im Enzkreis geführt haben oder führen könnten. Bisher wurden die Themenschwerpunkte Hochwasser nach Starkregen, Waldbrand, Bombenfund, Erdbeben und an der BABZ auch eine Sturmflut durchgespielt.
Kurz: Das Ziel muss immer sein, bei eingeschränkten Ressourcen alles und jeden zur rechten Zeit am rechten Ort einzusetzen, um optimale Lösungen für möglichst viele Menschen zu erreichen.
Darüber hinaus wurde bei den Übungen auch deutlich, welche internen Abläufe immer wieder erforderlich werden und funktionieren müssen: Lagedarstellung, Entscheidungsfindung und Dokumentation spielen ebenso wichtige Rollen wie die gesicherte eindeutige Informationsweitergabe und Kommunikation. Die Erkenntnis, selbst nur im Kontakt zu anderen wirksam werden zu können, führte bei manchen der ehemaligen Einsatzkräfte zu einem Aha-Effekt. „Ohne die da draußen können wir gar nichts“ – ist eine harte Erkenntnis, aber auch Motivation, möglichst gute Arbeitsbedingungen zu schaffen, um „die da draußen“ optimal zu unterstützen und damit letztlich den Menschen im Enzkreis zu helfen.
Vor der Lage: Wie fühlt sich Katastrophe an?
Im Juli 2024 war Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) ein Thema in der Führungsstabsfortbildung. Die Einsatzkräfte der Arbeitsgemeinschaft PSNV Pforzheim-Enzkreis helfen Menschen bei Stress und psychischen Belastungen nach Einsätzen. Warum dabei unterschieden wird zwischen „Hilfe für Betroffene“ und „Hilfe für Einsatzkräfte“ und wie sich die PSNV-Kräfte bei Großeinsätzen organisieren, wurde in dem spannenden Vortrag deutlich. Folgen soll neben den fachlichen Inputs und Übungen auch eine Fortbildung zum Thema Stress im Führungsstab – vor der Lage.
Bin ich hier im falschen Film? Wenn „Twister“ im Enzkreis passiert, dann kann ich mir vorstellen, dass Polizei, Rettungs- und Hilfskräfte dauerhaft nicht mehr fähig sind, die Lage zu beherrschen und allen Betroffenen zu helfen. Der Enzkreis setzt einen Technischen Leiter ein. Der Führungsstab unterstützt mit den Erfahrungen jedes einzelnen Mitglieds und den gemeinsam in zahlreichen Übungen, Fortbildungen und Planspielen erworbenen Fähigkeiten. Und ich bin ein Teil davon. Die Lage können wir nicht gewinnen. Aber jedes gerettete Menschenleben ist ein Erfolg. Was, wenn das kein Planspiel mehr ist?
Verwaltungsaufgaben unterm Brennglas
Der Landkreis muss nicht nur die Einsatzmaßnahmen leiten, sondern auch Verwaltungsmaßnahmen veranlassen, koordinieren und verantworten. Dabei unterstützen die Mitarbeiter der Kreisverwaltung in einer besonderen Aufbauorganisation – dem Verwaltungsstab.
Im Rahmen des Programms „Nachhaltige Stabsarbeit“ wurde 2023 die grundlegende Strategie zur Arbeit des Verwaltungsstabes des Enzkreises in einem Online-Workshop mit der BABZ festgelegt. Dies stellte zum einen die Übereinstimmung der durch die Schulung vermittelten Inhalte mit den Zielen der Behördenleitung fest und machte deutlich, dass die Aufbauorganisation „Verwaltungsstab“ Behördenentscheidungen und Verwaltungsmaßnahmen in Krisensituationen beschleunigen soll und gleichzeitig dafür sorgt, den Überblick über das große Ganze nicht zu verlieren.
Training mit Perspektivenwechsel - Wer sind die Betroffenen?
Im Januar 2024 nahmen am Seminar „Krisenmanagement für untere Katastrophenschutzbehörden“ zahlreiche Teilnehmer aus verschiedenen Verwaltungsstabsbereichen und die Hausspitze Teil.
Dabei wurden anhand eines fiktiven Cyber-Angriffs auf die Haus-IT und eines flächendeckenden Stromausfalls Methoden zur Aufgabenfeststellung und Priorisierung trainiert.
Zunächst wird die Frage gestellt: „Wer ist vom Stromausfall betroffen?“ Die Auswirkungen eines solchen Vorfalls sind weitreichend. Ohne Strom funktionieren weder Ampeln noch Krankenhäuser oder Kommunikationsmittel. Auch der Zahlungsverkehr ist schlagartig auf Bargeld beschränkt, und elektronische Kassen sind nicht mehr funktionsfähig. Die Bevölkerung steht plötzlich ohne grundlegende Versorgung da.
Die nächsten Fragen lauten: „Welche Bedürfnisse haben die Betroffenen jetzt? Wer kann sich selbst und anderen helfen und welche besonders vulnerablen Gruppen gibt es?“ Auch ohne Strom benötigen die Menschen Wasser, Lebensmittel und medizinische Versorgung. Auch Kommunikationsmittel, um Informationen zu erhalten, sind essenziell.
„Was brauchen sie am dringendsten? Wer kann unterstützen?“ Und „Wer ist dafür zuständig?“ Sind die Antworten an der Pinnwand visualisiert, fällt es leichter, die dringendsten Bedarfe der Bevölkerung im Blick zu behalten. Auch die unmittelbaren Auswirkungen werden visualisiert. Aufgaben, die dringlich behandelt werden müssen, sind markiert und werden als Aufträge aus dem Verwaltungsstab direkt auf die Arbeitsebene übertragen. Dabei wird auch klar: Möglicherweise ist die Kreisverwaltung nicht immer originär zuständig. Damit man nicht von den Ereignissen überholt wird, die an anderer Stelle verursacht wurden, lohnt es aber, ein Auge für die dringendsten Bedarfe der Bevölkerung zu haben. Auch dieses Situationsbewusstsein hilft, vor die Lage zu kommen.
Es gibt viel zu tun, wo fangen wir an?
Oder machen wir schon weiter? Alle Seminarteilnehmer haben erkannt, welche Aufgaben auf sie zukommen. Sicherheit gibt die Erkenntnis, dass viele Aufgaben inhaltlich mit den alltäglichen Arbeitsschwerpunkten der Fachämter übereinstimmen. Der Verwaltungsstab hat als besondere Aufbauorganisation der Kreisverwaltung jedoch auch Funktionsstellen, die nicht deckungsgleich mit den Alltagstätigkeiten der dafür vorgesehenen Mitarbeiter sind. Insbesondere im Verwaltungsstabsbereich 2 „Lage und Dokumentation“ sind Querschnittsfunktionen gefragt. Wer sind die Menschen, die für diese Aufgaben in Frage kommen? Motiviert vom Seminar an der BABZ hat sich das im Enzkreis für den Vb2 federführend zuständige Amt für Baurecht, Naturschutz und Bevölkerungsschutz auf Personalsuche gemacht.
Festgestellt wurde: Jeder sollte auch im Verwaltungsstabs das tun, was er/sie am besten kann. Welche Fähigkeiten sind also gefragt?
Protokoll kann doch jeder, oder?
Die Dokumentation muss klar, eindeutig verständlich und vor allem schnell verfügbar sein. Wobei der letzte Punkt, schnelle Verfügbarkeit, größere Rückmeldeschleifen zur Korrektur verbietet. Wichtig ist die Erkenntnis: Das Tagebuch und die Sitzungsprotokolle müssen nicht perfekt sein. Wichtiger ist, dass Außenstehende anhand der Dokumentation eine eindeutige Momentaufnahme des Lagebildes im Landratsamt und vor allem der Entscheidungsfindung bekommen. Das erleichtert die Zusammenarbeit, Übergabe an Kolleginnen und Kollegen genauso wie die nachträgliche Nachvollziehbarkeit der eigenen Maßnahmen durch Außenstehende. Eindeutig und dennoch allgemeinverständlich formulieren, im besten Fall auch „gerichtsfest“, wird beim Abfassen von Verfügungen (zum Beispiel im Baurecht) Routine. Wer das auch auf fachfremde Themenkomplexe mit einem gewissen Zeitdruck übertragen kann, bringt wertvolle Fähigkeiten für den Bereich Dokumentation im Vb2 mit.
GIS-Experten und die Afrikanische Schweinepest
Die Personalsuche für den Bereich Lagedarstellung durch den Vb2 ging beim Enzkreis noch weiter. Viele Informationen können mit Bezug auf die Kreiskommunen besser auf einer Karte dargestellt werden. Warum also nicht ein Stockwerk tiefer beim Vermessungsamt auf Personalsuche gehen? Natürlich sind die Fragen derer, die plötzlich mit ihrer Expertise zu Geoinformationssystemen (GIS) im Mittelpunkt stehen, zunächst verhalten skeptisch. Wichtige Klärung brachte ein Abstimmungstermin, in dem zum einen die gegenseitigen Erwartungen, aber auch Befürchtungen geäußert werden konnten. Im weiteren Verlauf stellten die beteiligten Kolleginnen und Kollegen bald fest, dass auch andere Ämter im Landratsamt zum Teil mit georeferenzierten Daten arbeiten (müssen). Der Austausch solcher Geodatenformate ist relativ leicht möglich. Noch hat die Afrikanische Schweinepest den Enzkreis nicht erreicht, der Austausch von Daten ist aber zwischen Vb2 Lagedarstellung und Veterinäramt bereits abgestimmt – vor der Lage.
Wer macht mit – vor der Lage?
Schnell wurde klar, dass der Verwaltungsstab die besten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus allen Ämtern braucht, um effektiv arbeiten zu können. Wie stellt man das an?
Wichtig erscheint die Tatsache, dass eine Zuarbeit zum Verwaltungsstab nicht von Unsicherheitsgefühlen, Beklemmung oder gar Widerwillen geprägt sein darf. Also muss jede und jeder auf die Aufgaben vorbereitet sein. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, die Verwaltungsstabstätigkeit regelmäßig zu thematisieren. Ein „jour fixe Verwaltungsstab“, zu dem die Stabsleitung einlädt, findet im Enzkreis in regelmäßigen Abständen statt. Die Verwaltungsstabsbereiche sind gerade dabei, ihre Funktionsfähigkeit auf ein tragfähiges Personalgerüst zu stellen. Und die im allgemeinen Fortbildungsprogramm vorgesehene Veranstaltung „Krisenbewältigung - aber wie? Die Arbeit im Verwaltungsstab“ findet aktuell reges Interesse, zuletzt als Eröffnung einer Kick-off Veranstaltung des Verwaltungsstabsbereichs 1 Personal.
Wohin geht die Reise?
Aktuell sind die beiden Stäbe des Enzkreises also aufgebrochen - in eine spannende Zukunft mit vielen Unwägbarkeiten. Welche Ereignisse sich dabei zu einer „Lage“ entwickeln werden, ist noch ungewiss. Zuversicht prägt die Stimmung: Beide Stäbe haben sich der Krisenbewältigung verschrieben und wollen besser werden. Als Zwischenziel steht eine gemeinsame Übung in Aussicht, in der Schnittstellen und Zusammenwirken im Mittelpunkt stehen werden. Bis dahin werden in kleineren Schulungen, Trainings, Übungen und dem ein oder anderen Anwendungsfall wertvolle Erfahrungen entstehen, die den zusammenwirkenden Menschen Sicherheit geben. Denn nichts ist wichtiger, als in der Krise die Köpfe zu kennen – und kennen lernt man sich am besten vor der Lage.