Unser Land ist mit den Auswirkungen globaler Krisen, wie dem Klimawandel und den Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sowie den mit dieser und weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen zusammenhängenden Flüchtlingsbewegungen, konfrontiert. Weitere nationale Herausforderungen wie die Auswirkungen des demografischen Wandels mit dem immer offenkundiger werdenden Fachkräftemangel – auch in der Jugendhilfe – kommen hinzu.
In den zurückliegenden Jahren haben sich aber auch die Familienstrukturen grundlegend verändert. Traditionelle Vorstellungen von Familie, die auf dem Modell von Vater, Mutter und Kind basiert, haben an Bedeutung verloren.
Die Rollenverteilung innerhalb von Familien hat sich weiterentwickelt. Frauen sind vermehrt außerhalb des Hauses berufstätig, während Männer verstärkt Verantwortung in der Familie übernehmen und nur reduziert arbeiten. Eine zunehmende Gleichberechtigung der Geschlechter in der Familie ist erkennbar.
Die Einstellungen zur Ehe haben sich verändert, spätere Heirat und Elternschaft haben sich durchgesetzt und die institutionelle Bindung der Ehe hat an Stabilität verloren. Dies führte zu einem Anstieg an Alleinerziehenden- und Patchworkfamilien.
Es ist schwierig, präzise Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen von Familienstrukturen zu treffen, da dies von zahlreichen Faktoren abhängt, darunter gesellschaftliche, wirtschaftliche, technologische und kulturelle Veränderungen, aber eine weitere Flexibilisierung und Diversität der Familienformen ist auch für die Zukunft wahrscheinlich.
Diese Veränderungen betreffen unsere Gesellschaft insgesamt und doch ist in einer kommunal organisierten Jugendhilfe letztlich jeder Landkreis für sich gefordert, adäquate Antworten für die Ausrichtung seiner Jugendhilfestrukturen zu finden. Dies gilt auch und gerade für den ländlichen Raum. Hat der Kommunalverband für Jugend und Soziales doch schon vor geraumer Zeit in seiner überörtlichen Berichterstattung für die Jugendhilfe in Baden-Württemberg konstatieren müssen, dass sich gesellschaftliche Veränderungen gerade dort zeigen und sich Jugendhilfebedarfe den Verhältnissen in den Ballungszentren angleichen. Diese Entwicklung hat sich auch im Main-Tauber-Kreis bestätigt. Der aktuelle Familienbericht für unseren Landkreis zeigt einen deutlichen Anstieg der Jugendhilfebedarfe in der Nach-Corona-Phase und hier insbesondere bei den Unterstützungsleistungen für junge Menschen mit einer seelischen Behinderung.
Dabei gilt es, bei häufig geringerer Steuerkraft, die erforderlichen Jugendhilfestrukturen zu erhalten und wo erforderlich zu ergänzen, die dafür notwendigen Fachkräfte zu gewinnen und zu halten sowie die Unterstützungsleistungen für Familien möglichst vor Ort in ihren Gemeinwesen bereitzustellen.
Auch der Main-Tauber-Kreis, als einer der flächengrößten Landkreise in Baden-Württemberg mit derzeit 135.200 Einwohnern, steht örtlichen und globalen Herausforderungen gegenüber und ist gefordert, den Bedarfen der jungen Menschen und ihrer Familien auch in der Zukunft gerecht zu werden.
Wesentliche Geldmittel und Personalkapazitäten der Jugendhilfe fließen dabei in die individuellen Hilfen für junge Menschen und ihre Familien – die erzieherischen Hilfen, die Hilfen für junge Volljährige und die Leistungen für seelisch behinderte junge Menschen. Voraussichtlich werden mittelfristig, im Sinne einer inklusiven Jugendhilfe, auch die Unterstützungsleistungen für Kinder und Jugendlichen mit geistiger, körperlicher oder mehrfacher Behinderung zum Aufgabenkatalog der Jugendämter gehören.
Im Main-Tauber-Kreis sind die Eingliederungshilfeleistungen für seelisch behinderte junge Menschen binnen eines Jahres zum 31. Dezember 2023 um ca. ein Drittel von 60 auf 79 Fälle gestiegen. Maßgeblichen Anteil hatten daran die Schulbegleitungen mit einer Steigerung von 47 auf 61 Leistungsfälle. Betrugen die Gesamtaufwendungen für diesen Bereich der Jugendhilfe im Jahr 2022 noch etwa 2,5 Millionen Euro, stieg die Gesamtsumme im Jahr 2023 auf etwa 3,2 Millionen Euro. Ein solch dramatischer Anstieg der Fallzahlen und der korrespondierenden Ausgaben war nicht erwartet worden.
Perspektivisch stellt sich insbesondere für Flächenlandkreise die Frage, inwieweit diese Leistungen zukünftig noch isoliert von den Angeboten zur Daseinsvorsorge der Städte und Gemeinden betrachtet werden können, sondern integrativ gesehen werden müssen – auch um kostenintensive Einzelhilfen zu vermeiden. Eine präventive Ausrichtung der Jugendhilfe, die auch die Bedürfnisse von jungen Menschen mit Beeinträchtigungen berücksichtigt, ist insofern unerlässlich.
Es seien an dieser Stelle drei Beispiele benannt, wie der Main-Tauber-Kreis dieses Ziel verfolgt.
Die Förderung der Kindertagesbetreuung sieht eine getrennte Verantwortlichkeit für die Kindertagesbetreuungsangebote vor. Während die Kommunen die Betreuung und Bildung von Kindern in Kindertageseinrichtungen verantworten, obliegt es den Landkreisen, angemessene Angebote in der Kindertagespflege vorzuhalten.
Im Rahmen unserer Gesamtverantwortung für die Kinder- und Jugendhilfe befinden wir uns jedoch in einem stetigen Austausch mit den Städten und Gemeinden des Main-Tauber-Kreises sowie den kirchlichen Trägern der Kindergärten, Kinderkrippen und Horte. In dieser Regelkommunikation wurden die zusätzlichen Unterstützungsbedarfe für Kinder mit besonderen sozialen und emotionalen Bedürfnissen immer deutlicher, was uns schließlich zu einer wissenschaftlich begleiteten und vom Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg geförderten repräsentativen Befragung der Kindertageseinrichtungen veranlasste.
Es gelang, die Erfordernisse der Kindertageseinrichtungen und der dort betreuten Kinder systematisch aufzuarbeiten. In der Folge stellt der Main-Tauber-Kreis den kommunalen und kirchlichen Trägern seit 2024 eine pädagogische Fachberatung zur Verfügung, die die Kita-Leitungen in besonderer Weise unterstützt, indem sie Beratung anbietet oder auch Fortbildung und Qualifizierung organisiert und so maßgeblich dazu beiträgt, dass alle Eltern „ihre Kita“ gut für eine gedeihliche Entwicklung ihrer Kinder in der Phase vor Eintritt in die Grundschule nutzen können.
Darüber hinaus verfolgt die Landkreisförderung für Familienzentren das Anliegen, kommunal eine Grundstruktur – auch im ländlichen Raum – zur Verfügung zu stellen, in der aufgabenübergreifend gedacht und gehandelt werden kann. Die Familienzentren bieten eine Struktur, in der Familien sehr niederschwellig unterstützt werden, in der aber auch weitere Angebote für Familien bis hin zu einer individuellen Hilfe vorgehalten oder vermittelt werden können. Beispielhaft seien Sprechstunden von Erziehungsberatungsstellen in Familienzentren genannt, eine klassische ambulante Form der Erziehungshilfe, die auf diese Weise sehr bürgernah zur Verfügung steht.
Der Main-Tauber-Kreis fördert die Schaffung von Familienzentren und die Verstetigung ihrer Angebote bereits im Rahmen eines befristeten Förderprogramms und hat diese Bezuschussung der Personal- und Sachkosten nun ab dem Jahr 2025 in eine Regelförderung überführt. Aktuell liegen für 17 der 18 Kommunen Anträge auf Förderung vor; der Landkreis rechnet mit einem Fördervolumen von etwa 450.000 Euro.
Und die Zukunft geht weiter! Mit der Einführung des Anspruchs auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder drängt sich einmal mehr die Frage auf, wie die Systeme Schule und Jugendhilfe miteinander kooperieren können. Die historisch gewachsenen unterschiedlichen Aufgaben und Zuständigkeiten von Jugendhilfe und Schule haben die Kooperation nicht unbedingt befördert. Beide Systeme wurden unabhängig voneinander entwickelt und hatten unterschiedliche Schwerpunkte. Fachleute in Jugendhilfe und Schule verwenden daher oft unterschiedliche Fachsprachen und pädagogische Ansätze, was die Verständigung und Kooperation erschweren kann.
Und doch drängt sich dieser Kooperationsbedarf mehr denn je auf, wenn mit Beginn des Schuljahres 2026/2027 zunächst die Schülerinnen und Schüler der 1. Klasse und dann sukzessive alle Grundschüler Anspruch auf eine Ganztagsbetreuung haben.
Was bedeutet dies für die Gruppenangebote der Kinder- und Jugendhilfe? Wie können die Jugendämter auch weiterhin die jungen Menschen erreichen, die im Rahmen von Sozialer Gruppenarbeit oder sozialpädagogischen Tagesgruppen individuell zu betreuen sind? Wie kann vermieden werden, dass eine gerade nicht gewollte Ausgrenzung dieser Kinder stattfindet, weil sie eben nicht mehr an Regelangeboten der Ganztagsbetreuung teilnehmen (können)? Auf Initiative der Landkreisverwaltung wurde im vergangenen Jahr ein kontinuierlicher interkommunaler Austausch mit den Städten und Gemeinden des Main-Tauber-Kreises zur Umsetzung des Ganztagsförderungsgesetzes initiiert, in den auch die Schulverwaltung eingebunden ist.
Der Main-Tauber-Kreis verfolgt auch hier eine niederschwellige Ausrichtung gruppenpädagogischer Jugendhilfeleistungen und hält schon jetzt in Kooperation mit freien Trägern der Jugendhilfe Gruppenangebote am Lebensort Schule vor. Vor dem Hintergrund der Anforderungen des Ganztagsförderungsgesetzes sind die beteiligten Akteure aus Schule und Schulverwaltung, öffentlicher und freier Jugendhilfe und den Kommunen mehr denn je gefordert, kooperativ gestaltete Modelle zu entwickeln und im Alltag zu leben, die das Regelangebot Ganztagsbetreuung sinnvoll und wirtschaftlich vertretbar mit individueller Hilfe verbinden.