Altersarmut in Baden-Württemberg

Altersarmut und ihre Auswirkungen in Baden-Württemberg: Eine Übersicht

Der Artikel beleuchtet die Lebenssituation älterer von Armut betroffener Menschen in Baden-Württemberg und stellt ausgewählte Ergebnisse des Berichts zur gesellschaftlichen Teilhabe vor, der im Auftrag des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration im Dezember 2023 veröffentlicht wird.
Jan A. Velimsky, Kristina Faden-Kuhne und Stephanie Saleth · Stuttgart · 06. Oktober 2023
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Die Lebenssituation älterer von Armut betroffener Menschen ist ein wichtiges, aber nach wie vor oftmals tabuisiertes gesellschaftliches Thema, welches in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird. Aufgrund der demographischen Entwicklung ist mit einem Anstieg älterer Menschen zu rechnen. Waren im Jahr 2020 noch knapp 20 % der baden-württembergischen Bevölkerung 65 Jahre oder älter (rund 2,3 Mio. Personen), so wird bereits im Jahr 2040 voraussichtlich gut ein Viertel der Bevölkerung (27 %) älter als 65 Jahre sein (vgl. Statistisches Landesamt Baden-Württemberg 2023).

Ältere Menschen, die Lebensmittel über die Tafeln beziehen oder Einkommen aus dem Sammeln von Pfandflaschen generieren müssen, sind schon jetzt in vielen Stadtbildern keine Seltenheit mehr. Ohne entsprechende Gegenmaßnahmen ist davon auszugehen, dass Armut im Alter in den nächsten beiden Jahrzehnten weiter zunehmen wird (vgl. Haan et al. 2017). Armut im Alter ist als Ergebnis des Lebens- und Erwerbsverlaufs bereits frühzeitig absehbar. Vor diesem Hintergrund hat das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration die FamilienForschung Baden-Württemberg mit der Erstellung eines Berichts zur gesellschaftlichen Teilhabe zum Thema Altersarmut beauftragt. Der Bericht erscheint Ende 2023.

Wann gilt jemand als armutsgefährdet?

Von Armutsgefährdung spricht man, wenn Personen über ein so geringes Einkommen und so geringe Mittel verfügen, dass ihnen ein Lebensstandard verwehrt wird, der in der Gesellschaft, in der sie leben, als annehmbar gilt.  Betroffene sehen sich häufig an den Rand gedrängt und von der Teilnahme an Aktivitäten (wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art) ausgeschlossen, die für andere Menschen die Norm sind. Auch kann ihr Zugang zu Grundrechten eingeschränkt sein (vgl. Rat der Europäischen Union 2004: 10).

Es werden nun ausgewählte Befunde aus dem Bericht präsentiert: Betrachtet man die Armutsgefährdungsquote[1] in Baden-Württemberg[2] im Zeitverlauf, so zeigt sich seit 2009 ein Anstieg von 14,1 % auf 16,4 % im Jahr 2021. Insgesamt lag die Armutsgefährdungsquote von Älteren (ab 65) bei 19,2 %, wobei es deutliche Geschlechterunterschiede gibt. Ältere Frauen waren 2021 häufiger armutsgefährdet als ältere Männer (21,6 % versus 16,3 %). Insgesamt gab es einen Anstieg in der Armutsgefährdung Älterer seit 2009 um rund 4 Prozentpunkte.

Die insgesamt höhere Armutsgefährdung der älteren Bevölkerung basiert allerdings vorwiegend auf der erhöhten Gefährdung von Frauen bedingt durch deren Erwerbsbiographie, die sich bei Rentenbezug manifestiert. Die Erwerbsbiografie von Frauen ist oft durch familienbedingte Unterbrechungen und typischerweise den Wiedereinstieg in eine Teilzeitbeschäftigung geprägt. Entsprechend niedriger fällt die Zahl der Versicherungsjahre aus. Im Jahr 2021 hatten Männer in Deutschland im Durchschnitt 40,7 Versicherungsjahre, Frauen dagegen nur 28,6 Versicherungsjahre (vgl. IAQ 2023).

Abbildung 1: Armutsgefährdungsquote in Baden-Württemberg 2009 bis 2021 nach Geschlecht 
Anmerkung: Die Ergebnisse von 2021 sind aufgrund methodischer und konzeptioneller Veränderungen im Mikrozensus mit den Vorjahren nur eingeschränkt vergleichbar. Aufgrund von Mängeln in den Daten werden zudem die Mikrozensusergebnisse für das Jahr 2020 vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg grundsätzlich nicht veröffentlicht; Datenquelle: Mikrozensus, eigene Auswertung FamilienForschung Baden-Württemberg im Statistischen Landesamt.
Abbildung 1: Armutsgefährdungsquote in Baden-Württemberg 2009 bis 2021 nach Geschlecht Anmerkung: Die Ergebnisse von 2021 sind aufgrund methodischer und konzeptioneller Veränderungen im Mikrozensus mit den Vorjahren nur eingeschränkt vergleichbar. Aufgrund von Mängeln in den Daten werden zudem die Mikrozensusergebnisse für das Jahr 2020 vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg grundsätzlich nicht veröffentlicht; Datenquelle: Mikrozensus, eigene Auswertung FamilienForschung Baden-Württemberg im Statistischen Landesamt.

Insgesamt ist Altersarmut stark abhängig vom Familienstand und von der Lebensform. Im Alter alleine zu leben, erhöht das Armutsrisiko, ebenso ein Migrationshintergrund. Gefährdet sind zudem jene, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind (Grundsicherung im Alter). Diese wurde im Jahr 2003 eingeführt, um Älteren bei finanzieller Bedürftigkeit ein existenzsicherndes Einkommen zu gewähren. In Baden-Württemberg lag der Anteil der Grundsicherungsbeziehenden mit 2,6 % etwas unter dem Bundesdurchschnitt von 3,4 % (Destatis 2023). Mit Blick auf die absoluten Zahlen hat sich die Zahl derer, die in Baden-Württemberg auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind, zwischen 2003 und 2022 mehr als verdoppelt (2003: 50.957; September 2022: 111.975). Dabei gibt es eine große Diskrepanz zwischen Beziehenden, und denen, die aufgrund ihrer Lebenssituation leistungsberechtigt wären. Die persönliche Betroffenheit wird oft verheimlicht, weshalb in Deutschland Hilfeleistungen wie die Grundsicherung häufig nicht in Anspruch genommen werden.[3]

Aussage eines Betroffenen

„Durch meine prekäre finanzielle Situation bin ich auch in meiner sozialen Teilhabe stark eingeschränkt. Das beginnt schon beim Thema Mobilität und Kommunikation.“ 

Armut, und somit auch Armut im Alter, lässt sich in der Regel nicht auf einen singulären Grund zurückführen, sondern resultiert aus den Wechselwirkungen verschiedener Faktoren und Lebensumstände. Ebenso beschränken sich die Auswirkungen von Altersarmut nicht nur auf ökonomische Aspekte. Sie sind auch in anderen Lebensbereichen wie Wohnen, Gesundheit, Mobilität sowie bei sozialen Netzwerken spürbar. Altersarmut ist folglich mehrdimensional und betrifft die gesamte Lebenslage. In Abbildung 2 sind einige in der Forschung gängige Dimensionen aufgeführt. Einige werden nun hinsichtlich des erwarteten Zusammenhangs mit Altersarmut in Kürze vorgestellt.[4]

Abb. 2: Dimensionen von Altersarmut
Abb. 2: Dimensionen von Altersarmut
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Altersarmut beeinflusst das Wohnen und das Wohnumfeld Älterer. Gerade im Alter ist die Qualität des Wohnens sehr wichtig, z.B. ob man barrierefrei wohnen kann. Dabei entstehen Kosten für Hilfeleistungen im Haushalt oder bei der Pflege, die dazu beitragen, möglichst lange am Wohnort bleiben zu können. Mit zunehmendem Alter entwickeln Menschen eine stärkere Ortsverbundenheit, die hilft, sich gegenüber Veränderungen im Leben, wie zunehmenden körperlichen Gebrechen, geringerer Wertschätzung und dem Verlust von Freunden/Verwandten zu schützen und ein Gefühl der Kontinuität aufrechtzuerhalten (Belanche et al., 2021; Velimsky et al. 2023). Auch die Wohnumgebung ist wichtig. Ältere, die in einer Wohnumgebung mit guter Infrastruktur und Zugang zu Dienstleistungen leben, haben im Vergleich zu denjenigen, auf die das nicht zutrifft, eine bessere physische und psychische Gesundheit und eine höhere Lebenszufriedenheit (vgl. Stoeckel und Litwin 2015). 

Armut im Alter hat auch Auswirkungen auf die Quantität und die Wahrnehmung sozialer Beziehungen und führt zu sozialer Isolation[5] und dem Gefühl von Einsamkeit.[6] Einsamkeitsgefühle und soziale Isolation treten im Alter verstärkt auf, etwa durch den Auszug der Kinder aus dem Elternhaus, dem Verlust des Lebenspartners oder dem Ableben von Freunden. Altersarmut verstärkt diese Effekte (siehe Cohen-Mansfield et al. 2016; Luhmann und Hawkley 2016; Luhmann et al. 2023). Ein immer wichtiger werdendes Thema ist zudem Digitalisierung im Alter. Das beinhaltet die Informationsbeschaffung und Unterhaltung sowie die Nutzung digitaler Angebote, die das alltägliche Leben erleichtern (z.B. Onlinefunktion bei der Gesundheitsüberwachung). Die Nutzung sozialer Medien und der damit verbundene Kontakt mit Freunden/Familie kann überdies einer Isolation entgegenwirken und das Einsamkeitsrisiko verringern (vgl. Hajek and König 2021).

Die Ergebnisse der empirischen Analysen aus dem Bericht zeigen: Altersarmut geht mit einem geringeren Selbstwertgefühl, einer geringeren Lebenszufriedenheit, einer schlechteren Bewertung der eigenen Wohnsituation und weniger sozialen Kontakten einher. Zudem sinkt die Wahrscheinlichkeit eines Internetzugangs bei von Altersarmut Betroffenen, wogegen die Wahrscheinlichkeit Opfer von Altersdiskriminierung zu werden steigt. Von Altersarmut Betroffene kennen auch weniger Angebote in Bezug auf altersbezogene Dienstleistungen am jeweiligen Wohnort (Stadt/Landkreis), obwohl sie im Besonderen auf solche Angebote angewiesen sind. Ferner haben von Altersarmut Betroffene auch eher Depressionen und fühlen sich eher einsam.

In dem Bericht wurde zudem untersucht, wie sich Altersarmut und andere Faktoren auf das Gefühl sozialer Exklusion auswirken. Einkommensarmut im Alter erhöht dabei das Exklusionsgefühl der betroffenen Personen, ebenso wie physische Erkrankungen, Depression und Einsamkeit. Demgegenüber kann der Zugang zum Internet dem Gefühl von Exklusion im Alter entgegenwirken wie auch das Wissen um Angebote sozialer Dienstleistungen am Wohnort.

Insgesamt verdeutlichen die empirischen Analysen die Mehrdimensionalität von Altersarmut. Der Befund, dass generell der Internetzugang und das Wissen um soziale Dienstleistungen am Wohnort das Gefühl sozialer Exklusion Älterer verringern können, bieten Anknüpfungspunkte, um die Teilhabe und Lebensqualität dieser zu verbessern. Für ältere Menschen, die von Armut betroffen sind, bietet dabei vor allem das Wissen um soziale Dienstleistungen am Wohnort ein Verbesserungspotential. Es scheint nicht nur wichtig, seniorenspezifische Angebote zu schaffen, sondern auch bestehende Angebote gerade für Betroffene noch sichtbarer zu machen.

Weitere Informationen:

Der Bericht zur gesellschaftlichen Teilhabe zum Thema „Altersarmut“ ist Teil der modularen Armutsberichterstattung des Landes. Im Zeitraum 2023 bis 2025 werden Berichte zu drei aktuellen Schwerpunktthemen aus dem Bereich Armut und Reichtum erstellt. Die Berichte beinhalten eine wissenschaftliche Analyse und jeweils aus der Analyse abgeleitete Handlungsempfehlungen des Landesbeirats für Armutsbekämpfung und Prävention und einen Beitrag des Sozialministeriums. Der nächste Bericht wird sich mit dem Thema Wohnen befassen.

Weitere Informationen hierzu erhalten Sie hier: https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/de/soziales/leistungen-unterstuetzung/armutsbekaempfung

Fußnoten:

[1] Wer weniger als 60 % des mittleren Einkommens (Median) einer Gesellschaft verdient, gilt als armutsgefährdet (vgl. Eurostat 2022). In Baden-Württemberg lag 2021 die Armutsschwelle für einen Einpersonenhaushalt bei 1.220 Euro.
[2] Unter Verwendung des Landesmedians.
[3] Laut Schätzungen von Buslei et al. (2019) liegt der Anteil der Nichtinanspruchnahme von Grundsicherung im Alter bei etwa 60 %.
[4] Eine detailliertere Beschreibung erfolgt im Bericht zur gesellschaftlichen Teilhabe zum Thema Altersarmut in Baden-Württemberg. Dieser wird im Auftrag des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration erstellt und im Dezember 2023 veröffentlicht.
[5] Soziale Isolation ist die objektive physische Trennung von Anderen, also die Abwesenheit sozialer Interaktionen.
[6] Das Gefühl von Einsamkeit entsteht, wenn ein Individuum soziale Interkationen qualitativ als unbefriedigend wahrnimmt und/oder quantitativ einen Mangel an zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt (vgl. Sipowicz et al. 2021).

Literatur:

Belanche D, Casaló LV, Rubio MÁ (2021): Local Place Identity: A Comparison between Residents of Rural and Urban Communities. In: Journal of Rural Studies 82, S. 242-252.

Buslei, Hermann; Geyer, Johannes; Haan, Peter; Harnisch, Michelle (2019): Starke Nichtinanspruchnahme von Grundsicherung deutet auf hohe verdeckte Altersarmut. In: DIW Wochenbericht, 49/2019, S. 910-918.

Cohen-Mansfield, Jiska, Hazan, Haim, Lerman, Yaffa; Shalom, Vera (2016): Correlates and predictors of loneliness in older-adults. A review of quantitative results informed by qualitative insights. International Psychogeriatrics 28 (4), S. 557-576.

Eurostat 2023: SDG 1 –No poverty. End poverty in all ist forms everywhere Explained. Verfügbar unter: https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=SDG_1_-_No_poverty#No_poverty_in_the_EU:_overview_and_key_trends. Abgerufen am 30.05.2023.

Haan, Peter; Stichnoth, Holger; Blömer, Maximilian; Buslei, Hermann; Geyer, Johannes; Krolage, Carla & Müller, Kai-Uwe (2017): Entwicklung der Altersarmut bis 2036: Trends, Risikogruppen und Politikszenarien. ZEW-Gutachten und For-schungsberichte. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Hajek, André & König, Hans-Helmut (2021): Does the beginning and the end of income poverty affect psychosocial factors among middle-aged and older adults? Findings based on nationally representative longitudinal data. In: Aging & Mental Health 25 (5), S. 906-912.

IAQ (Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen) 2023: Durchschnittliche Entgeltpunkte und Versicherungsjahre*, Westdeutschland 2000 – 2021. Verfügbar unter: https://www.sozialpolitik-aktuell.de/files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Alter-Rente/Datensammlung/PDF-Dateien/abbVIII31.pdf. Abgerufen am 21.04.2023.

Destatis (Statistisches Bundesamt) (2023): Quote der Empfänger von Grundsicherung (Prozent). Zeitreihe nach Ländern.

Luhmann, Maike; Buecker, Susanne; Rüsberg, Marilena (2023): Loneliness across time and space. In: Nature Reviews Psychology 2, S. 9-23.

Luhmann, Maike & Hawkley, Louise C. (2016): Age differences in loneliness from late adolescence to oldest old age. In: Developmental Psychology 52 (6), S. 943-959.

Sipowicz, Kasper; Marlena, Podlecka; Łukasz, Mokros; Tadeusz, Pietras (2021): Lonely in the City–Sociodemographic Status and Somatic Morbidities as Predictors of Loneliness and Depression among Seniors–Preliminary Results. In: International Journal of Environmental Research and Public Health 18, S. 7213.

Rat der Europäischen Union (2004): Gemeinsamer Bericht der Kommission und des Rates über die soziale Eingliederung. 7101/04. Verfügbar unter: https://ec.europa.eu/employment_social/soc-prot/soc-incl-/final_joint_inclusion_report_2003_de.pdf. Abgerufen am 04.07.2023.

Statistisches Landesamt Baden-Württemberg 2023: Vorausberechnung. Bevölkerungsvorausberechnung nach Altersgruppen. Verfügbar unter: https://www.statistik-bw.de/BevoelkGebiet/Vorausrechnung/98015023.tab?R=LA. Abgerufen am 04.07.2023.

Stoeckel, Kimberly J. & Litwin, Howard (2015): Accessibility to neighbourhood services and well-being among older Europeans. In: Börsch-Supan, Axel; Kneip, Thorsten; Litwin, Howard; Myck, Michal; Weber, Guglielmo (Hrsg.): Ageing in Europe – Supporting policies for an inclusive society. Berlin: De Gruyter, S. 39-48.

Velimsky, Jan A.; Block, Sebastian; Gross, Martin; Nyhuis, Dominic (2023): Probing the Effect of Candidate Localness in Low-Information Elections: Evidence from the German Local Level. In: Political Studies, (Online-First): https://doi.org/10.1177/00323217231173. Abgerufen am 29.08.2023.

Jan A. Velimsky, Kristina Faden-Kuhne und Stephanie Saleth arbeiten bei der FamilienForschung Baden-Württemberg
Schlagworte: Armut
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