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Generationenwechsel bei freien und öffentlichen Trägern der Jugendhilfe

Als zugeordnetes Mitglied der GenX (oder auch Golf – Jg. 1972) verfolge ich seit vielen Jahren Umwälzungsprozesse in Organisationen der Jugendhilfe – nicht aus einer wissenschaftlich-distanzierten Vogelperspektive, sondern quasi mitten im Geschehen.
Harry Hennig · Landkreis Böblingen · 05. Juli 2024
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Viele Begegnungen und Erfahrungen haben mich auf einem Weg von rund 30 Arbeitsjahren begleitet und ich bringe diese sehr subjektive Retrospektive ohne tieferen wissenschaftlichen Anspruch zu Papier.

Mehr als die Hälfte meines beruflichen Alltags war bisher geprägt von „Babyboomern“. Es ist eine Generation („W“?!), die maßgebliche Aufbauarbeit geleistet hat in der Entwicklung einer bedarfs- und beteiligungsorientierten Kinder- und Jugendhilfe. In dieser Ära ist (noch) zentral, danach zu fragen und auch zu verstehen, welche vielfältigen (Hilfe-)Bedarfe es geben kann. Dies ist u.a. eine Reaktion auf steigende Anforderungen einer Leistungsgesellschaft, die grob gesagt „Gewinner“ und „Verlierer“ produziert. Die Kinder- und Jugendhilfe hat in dieser Phase den Auftrag übernommen, „Aussortierungsprozesse“ individuell abzufedern und so letztlich auch auf der gesellschaftspolitischen Ebene einen Beitrag für sozialen Frieden zu leisten.

Konsequenterweise hat die Kinder- und Jugendhilfe mit dieser „Auftragsübernahme“ eine wirtschaftlich relevante Expansion auf allen Ebenen erlebt und erreicht viele gesellschaftliche Milieus (auf Ebene der Adressatinnen und Adressaten, aber auch auf der Ebene der Mitarbeitenden). In der Kinder- und Jugendhilfe waren 2022 in Deutschland rund 1,3 Mio. Personen tätig, diese Gesamtzahl entsprach 2022 2,8% aller Erwerbstätigen in Deutschland[1]. Die Ausgaben in der Kinder- und Jugendhilfe haben sich seit 2005 etwa verdreifacht auf 62 Mrd. Euro[2] - Tendenz: weiterhin steigend.

Der Ansatz von „Bedarfsorientierung“ hat vordergründig lange funktioniert, in den letzten Jahren erleben wir allerdings immer mehr, dass die Kinder- und Jugendhilfe eben nicht allen Bedarfen gerecht werden kann, die Gesellschaft und Politik für sie vorsehen – dafür gibt es finanzielle Gründe, aber auch fehlende Fachkräfte, strukturelle Herausforderungen und eine komplizierte Lage rund um politische Verantwortung und Prioritäten.

Auf jeden Fall wird immer deutlicher, dass viele gesetzlichen Ansprüche des Sozialstaats nicht mehr umsetzbar sind. Aussortierungs- und Ausgrenzungsprozesse entfalten eine immer größere - auch gesellschaftliche - Dramatik und was macht die Kinder-Jugendhilfe…?

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an zwei Leitsätze die mein berufliches Wirken im Jugendamt bereits vor rund 15-20 Jahren maßgeblich beeinflusst haben:

  • Das Jugendamt ist eine lernende Organisation und nur in diesem Verständnis ist eine Weiterentwicklung des Ansatzes von „Helfen mit Risiko“ möglich. Wenn wir unsere landkreisweite Entwicklung im Bereich „wirkungsorientierter Jugendhilfe“ oder auch Kinderschutz bzw. „Signs of Safety“ betrachten, passt diese Rahmung auch heute bestens!
  • Das Jugendamt bewirbt sich bei den zukünftigen Mitarbeitenden; wenn wir wirklich die Fachkräfte für und von morgen wollen, lohnt also ein Perspektivwechsel!

Es stellt sich die Frage, ob es sinnvoll und zielführend ist, diese Erfahrungen als Leitplanken für nachfolgende Generationen zur Verfügung zu stellen? Integriert dieser Rahmen all das, was „digital natives“ für ihre „life-balance“ wichtig ist? Stecken da so viel Diversität und Vielfalt drin, dass wir alle und alles unter einen Hut bekommen? Und was leitet sich daraus ab für die Entwicklung von Organisationen in der Kinder- und Jugendhilfe?

Viele Mitarbeitende von freien und öffentlichen Trägern blicken auf Jahre in materieller und existentieller Sicherheit und eine stabile Lebenssituation zurück, sind sensibilisiert für Vielfalt, Demokratie, Klima und Nachhaltigkeit – beste Voraussetzungen, denn sie wissen, was jetzt wichtig ist. Verabschieden wir uns also von einer hierarchischen Kompetenzverteilung, hören wir zu, schauen wir hin und teilen wir Verantwortung und Wissen!

Die Herausforderungen sind auf allen Ebenen so drängend, dass wir uns nicht leisten können, „besserwisserisch“ auf die Nachwuchskräfte von heute und morgen zu blicken. Nehmen wir uns lieber Zeit, Mitarbeitende mit ihren Eindrücken und Ideen ernsthaft wahr zu nehmen und vergessen wir auch nicht GenY und die Millenials!

Zu Beginn meines Berufseinstiegs Mitte der 90er Jahre waren die Babyboomer aufgrund des engen Arbeitsmarkts erstmal eine echte Hürde und wollten mich in der Arbeitswelt eigentlich nur dann willkommen heißen, wenn ich eine mehrjährige Berufserfahrung mitbringen konnte.

Dass ich letztlich doch noch (eben OHNE Berufserfahrung) in einem sozialversicherungspflichtigen Job in der Jugendarbeit gelandet bin, verdanke ich guten Ratgebenden, Fürsprechenden und einer Reihe von Zufällen.

Was erleben wir heute? Die Hochschulen bilden eine (immer noch) große Zahl von Fachkräften aus, die sich inzwischen fast frei das Aufgabenfeld und den Anstellungsträger raussuchen können. Wir Anstellungsträger bewerben uns nicht nur als lernende Organisationen, sondern sollen auch wertebasiert agieren, fürsorglich und wachstumsfördernd für Mitarbeitende sein, deren private und / oder familiären Herausforderungen die Arbeitsgestaltung maßgeblich beeinflussen.

Ein mögliches Kernproblem ist multilateraler Wettbewerb um die Fachkräfte, bei dem nun die Organisationen zu Gewinnern und Verlierern werden – helfen könnte uns hier mehr trägerübergreifende Abstimmung statt nervenaufreibender Verteilkämpfe um Ressourcen auf allen Ebenen.

Alle Diskussionen zu Quereinstieg und Qualifizierungsprogrammen sowie das Hinterfragen von Standards sind letztlich ein wichtiger Hinweis darauf, dass die Trendwende schon lange vollzogen ist. Wir sollten uns folglich auf ehrliche Debatten einlassen: Was können und wollen wir noch in der Kinder- und Jugendhilfe anbieten? Welche Kooperationen und Partnerschaften brauchen wir, damit auch junge Menschen echte Chancen bekommen und nicht zerrieben werden in Zahnrädern der Kinder- und Jugendhilfe, die immer schlechter ineinandergreifen.

Flankieren könnte diesen Prozess ein kritischer Blick auf die Entwicklung von Professionalisierung in der Sozialen Arbeit. Niemand soll sich verabschieden von gefestigten Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie u.v.m., es muss vielmehr darum gehen, gefestigtes professionelles Wissen vernetzter anzuwenden, d.h. sich stärker auf die Suche machen nach hilfreichen Netzwerken, Ehrenamtlichen, Menschen, die im besten Sinne bereit sind, mit anderen Menschen Verantwortung zu übernehmen und nicht nur für sie! Dazu gehört auch die bessere Vernetzung mit „Nachbardispziplinen“ im Bereich Bildung, Pflege u.v.m.

Ich bin froh, dass wir im Landkreis Böblingen Träger der Kinder- und Jugendhilfe haben, die sich gemeinsam mit dem Jugendamt all diesen Herausforderungen stellen. Die „Babyboomer“ haben uns dafür den Weg geebnet, lasst uns eine gute „Stabübergabe“ gestalten!

 

Harry Hennig ist Amtsleiter Jugend im Landratsamt Böblingen
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