Ansprache bei der 42. Landkreisversammlung

„Klar in den Zielen, offen in den Wegen“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann MdL erörterte in seiner Ansprache insbesondere die Themen Fluchtmigration, Energiewende und Krankenhäuser. Er zeigte sich offen in der Frage, auf welchen Wegen sich die gemeinsamen Ziele erreichen lassen.
Winfried Kretschmann MdL · Staatsministerium Baden-Württemberg · 21. Oktober 2024
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Warum finden eigentlich die Landkreisversammlungen immer im Herbst statt? Eine aktuelle Studie der dänischen Universität Aarhus gab hier die Antwort: Je heißer es ist, desto kürzer fassen sich Kommunalpolitiker in ihren Reden – und umgekehrt. Mir steht jetzt jedenfalls eine großzügige Redezeit zur Verfügung.

Herr Präsident Landrat Walter, Sie haben Ihre Rede eingeleitet mit der schwierigen Lage, in der wir uns wirtschaftlich befinden. Das will ich jetzt nicht vertiefen. Aber die Lage ist in der Tat ernst. Wir merken das an einer unserer großen Säulen: der Automobilindustrie. Die ist wirklich in den schwersten Gewässern – das kann man nicht anders sagen – mit Auswirkungen auch auf andere Branchen, etwa den Maschinenbau. Das ist eine ernsthafte Situation, der wir uns natürlich mit vollem Ernst widmen.

Neben diesen drängenden Fragen dürfen wir nicht vergessen: Was sind die wichtigen Fragen, die wir trotzdem angehen müssen? Und das ist, diesem Land seine Innovationsstärke zu erhalten. Sie haben jetzt wieder eine fast unendliche Reihe von Wünschen genannt. Aber glauben Sie mir: Ich muss als Regierungschef in Haushaltsverhandlungen auch immer darauf achten, dass wir genug Mittel haben und bereitstellen, um die Innovationskraft dieses Landes auf dem Level zu halten, auf dem sie ist. Sonst untergraben wir die Quellen des Reichtums der Zukunft. Das muss jeder wissen. Wir haben eine beachtliche Quote bei Forschung und Entwicklung im Land, nämlich 5,6 % des Bruttoinlandsprodukts. Das ist ein absoluter Spitzenwert. Den werden wir nur halten können, wenn die Unternehmen und auch die öffentliche Hand dazu in der Lage sind. Und da bitte ich einfach um Verständnis: Darauf habe ich als Regierungschef zu achten – neben den vielen Wünschen, die aus den Ressorts kommen, die aus den Kommunen kommen. Da sind ja ganz selten völlig unberechtigte Wünsche dabei, die man einfach wegwischen kann. Trotzdem muss ich darauf schauen, dass auch in Forschung und Entwicklung entschieden investiert wird, aber auch in den ganzen Bildungsbereich. Wir haben jetzt ein riesiges Paket geschnürt, um die Sprachförderung an Grundschulen und in den Kindergärten zu stärken. Die katastrophalen Meldungen, die wir hatten, dass 20 % der Schülerinnen und Schüler am Ende der Grundschule nicht richtig rechnen, lesen und schreiben können und weitere 20 % das nicht gut können, sind ein Alarmsignal. Wir haben ein enormes Paket geschultert, um diese Situation zu verbessern. Auch das gehört zur Daseinsvorsorge. Wir sind das nicht nur den jungen Menschen schuldig. Auch die Zukunft unseres Landes als Wirtschaftsstandort macht es erforderlich, dass wir dafür etwas tun. Dafür nehmen wir sehr, sehr viel Geld in die Hand und müssen das schultern.

Ich will nur einige Beispiele nennen, um zu zeigen, was wir in Forschung und Entwicklung investieren. Denken Sie nur an Cyber Valley Stuttgart / Tübingen, an den riesigen Park IPAI in Heilbronn, an das CyberForum in Karlsruhe. Das sind alles Institutionen, die Mittel brauchen. Wir müssen auch Dinge kofinanzieren, etwa bei Gebäuden. Das strapaziert natürlich in dieser schwierigen Haushaltslage den Haushalt. Aber auch das muss gemacht werden; ich hoffe da auf Ihre Zustimmung. Und glauben Sie mir: Das macht das Land Baden-Württemberg und seine Regierung.

Ich komme jetzt zu dem Thema, das uns alle sehr in Atem hält: Das ist das ganze Thema Flüchtlinge und Migration. Herr Präsident Landrat Brötel, Sie haben gesagt: „Wir haben einfach nicht mehr die Kraft, die Menge des Zuzugs an Flüchtlingen zu bewältigen.“ Ja, wir sind am Limit. Deshalb müssen wir die irreguläre Migration nach Deutschland weiter begrenzen. Bund und Länder haben dazu bereits zahlreiche Maßnahmen beschlossen, der Bund zum Beispiel die verbesserte Abschiebung von Straftätern, Leistungskürzung für ausreisepflichtige Personen und eine zügige Umsetzung der EU-Asylreform in deutsches Recht. Denn es ist allen klar, dass wir diese Frage letztlich nur europäisch lösen können. Das sind Punkte, die auch der Deutsche Landkreistag in seinem Positionspapier Anfang September gefordert hat und die auch meine Regierung ausdrücklich befürwortet, genauso wie Grenzkontrollen an allen deutschen Landesgrenzen oder verschärfte Leistungskürzungen für die Dublin-Fälle.

Aber wir selbst handeln natürlich auch: mit der Einführung einer Bezahlkarte, mit unserem Migrations- und Sicherheitspaket, mit dem wir unsere Maßnahmen der letzten Jahre fortsetzen und intensivieren, mit der gemeinsamen Bundesratsinitiative von NRW, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein und mit unserem Entschließungsantrag „Migration steuern, innere Sicherheit gewährleisten“, den wir am Freitag in den Bundesrat eingebracht haben.

Es geht uns um eine wirksame Begrenzung der irregulären Migration. Und es geht uns um Sicherheit.

Ich will ganz klar sagen: Es ist keinem vernünftigen Menschen zu vermitteln, dass wir Mörder, Hassprediger und Verbrecher oft nicht abgeschoben bekommen. Deshalb: Wer hier Asyl beantragt und dann schwere Straftaten begeht, muss unser Land wieder verlassen. Das gilt auch für schwere Straftäter und Gefährder aus Afghanistan oder Syrien. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist hier in Art. 33 Abs. 2 eindeutig. Wer wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde, hat seinen Schutz vor Abschiebung verwirkt.

Die Begrenzung der irregulären Migration und mehr Sicherheit ist das eine. Das andere ist: Wir müssen die reguläre Einwanderung in unseren Arbeits- und Fachkräftemarkt verflüssigen. Sonst würde unser Arbeitsmarkt kollabieren, aber auch Bereiche wie Krankenhaus- und Pflegeeinrichtungen, und mit ihm die Wertschöpfung und unser gesamtes Sozialsystem.

Unsere neue Landesagentur für die Zuwanderung von Fachkräften soll dazu beitragen, diese reguläre Einwanderung weiter zu verflüssigen. Mit der Landesagentur wollen wir ausländischen Fachkräften eine schnelle und unbürokratische Einreise ermöglichen. Sie wird nicht nur das beschleunigte Fachkräfteverfahren durchführen, sondern auch Unternehmen rund um das Thema „Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen“ beraten. Und das heißt auch: Wir können die Ausländerbehörden der Kommunen – der Großen Kreisstädte, der Kreise – entlasten, und das geschieht damit.

Diese beiden Richtungen – irreguläre Migration begrenzen, reguläre Migration in unseren Arbeits- und Fachkräftemarkt verflüssigen – werden wir zusammen mit den Kommunen machen. Wir sind beide in einer Verantwortungsgemeinschaft. Sie alle wissen: Die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine gesetzliche Pflichtaufgabe. Baden-Württemberg muss 13 % der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge unterbringen. Wir tun alles, um Sie in dieser extrem angespannten Situation zu entlasten; zum Beispiel, indem wir die Plätze in den Landeserstaufnahmestellen weiter ausbauen – auch durch neue LEAs, wie hier, in Bruchsal. Dafür brauchen wir aber auch die Unterstützung der Kreise und Kommunen.

Was ich entschieden zurückweisen muss, Herr Präsident Landrat Walter: dass wir eine rücksichtslose Zuschiebung dieser Finanzprobleme an die Kommunen betreiben würden. Das ist natürlich nicht der Fall. Aber Sie müssen einfach mal ganz schlicht sehen: Wir haben selbst hohe Aufwendungen – und das in dieser angespannten Lage.

Aber das gehört halt zur Liturgie dieser Veranstaltung: Sie kommen mit Ihrer Kaskade von Forderungen und erwarten nun, dass ich öffentlich mit Ihnen verhandle. Das habe ich aber noch nie gemacht. Das ist heute die letzte Landkreisversammlung, zu der ich als Ministerpräsident komme. Aber ich garantiere Ihnen: Auch meine Nachfolger, wer immer das sein mag, werden das nicht machen. Wir verhandeln nicht auf offener Bühne. Dazu gibt es die Gemeinsame Finanzkommission. Da haben wir das immer gemacht, und da werden wir das auch in Zukunft tun. Das wissen Sie, Herr Präsident. Das Bestreben in dieser Gemeinsamen Finanzkommission ist immer, dass wir zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen. Ob wir das dann immer hinbekommen, ist eine andere Frage.

Aber jedenfalls weisen wir nichts rücksichtslos den Kommunen zu. Diese Aussage muss ich zurückweisen. Das ist nicht unser Stil. Das haben wir noch nie gemacht, und das werden wir auch in Zukunft nicht machen. Da dürfen Sie ganz beruhigt sein.

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Das zweite Megathema, das ich ansprechen möchte, ist die Energiewende. Da kommen wir gut voran. Ich habe vor Kurzem die SuedLink-Baustelle in Grünsfeld eröffnet. Im November werde ich den ULTRANET-Konverter in Philippsburg in Betrieb nehmen. Auch bei den Erneuerbaren geht es voran. Bei der Solarenergie übertreffen wir bereits unsere eigenen Ziele. Bei der Windkraft sind wir jetzt so auf Kurs, dass wir unsere Ausbauziele bis 2030 erreichen können.

Wir brauchen aber natürlich weiterhin gewaltige Investitionen. Experten gehen von 600 Milliarden Euro bis 2030 aus. Die EnBW will bis dahin 50 Milliarden Euro investieren. Dazu muss sie ihr Kapital erhöhen. Das Land und die OEW erwägen, diese Kapitalerhöhung gemeinsam zu ermöglichen. Die Gespräche laufen dazu bei uns und bei der OEW. Vielen Dank für die gute Zusammenarbeit auf diesem Gebiet und die enge Abstimmung! Aber wir brauchen dazu natürlich alle Energieversorger im Land, denn alle sind für die Energiewende wichtig. Ich möchte Sie daher ermutigen, dass Sie, wo immer möglich, Ihre Investitionen weiter tätigen, soweit Sie daran beteiligt sind oder Stadtwerke haben.

Es geht aber nicht nur um Investitionen, sondern auch um den richtigen Spirit. China hat allein im letzten Jahr fast 76 Gigawatt an neuen Windkraftanlagen investiert. Zum Vergleich: In allen EU-Ländern zusammen waren es etwas über 16 Gigawatt. Also Sie sehen: China versteht das offensichtlich als echte Chance, und genau das müssen wir auch wieder tun: die Energiewende als eine große und einmalige Chance verstehen. Sie setzt enorme Innovationspotenziale frei. Anschließend werde ich die derzeit größte schwimmende Photovoltaikanlage Deutschlands in Bad Schönborn einweihen. Die Energiewende schafft neue Geschäftsmodelle: Smart Grids, Smart Homes, Smart Cities. Alles wird effizient miteinander vernetzt und genutzt werden, und das wird zu einer völlig neuen Energiewelt führen. Der neue EnBW-Chef Stamatelopoulos hat kürzlich gesagt: Früher hatten wir 20 Großkraftwerke in Baden-Württemberg. Die Leute haben den Stecker in die Steckdose gesteckt und die Rechnung bezahlt. Heute haben wir Hunderttausende von kleinen Kraftwerksbetreibern. Wir gehen damit in ein völlig neues Zeitalter, wo die ganze Gesellschaft sich ändert.

Das heißt, gerade in der Daseinsvorsorge – dazu gehört ja die Energiebereitstellung – kommen wir in eine ganz neue Situation einer Aktivbürgergesellschaft. Ich bin wirklich begeistert davon, wie zum Beispiel der Verband Kommunaler Unternehmen, bei dem ich kürzlich war, das ganz entschlossen und kreativ anpackt. Chapeau! Genau so muss es laufen. Wir sind da mittendrin, haben es vorangetrieben und müssen das weiter vorantreiben.

Jetzt zum wichtigen Thema: den Krankenhäusern. Bundesminister Lauterbach hat seine Reform mittlerweile in den Bundestag eingebracht. Diese wird nun gründlich und kritisch beraten. Wir müssen bei den Kliniken zweigleisig fahren. Bei den Betriebskosten, indem wir nicht nur darauf achten, dass ausreichend Betten belegt und die Fallzahlen ausreichend hoch sind, sondern ausreichend Betten und Behandlungsmöglichkeiten auch in der Fläche vorgehalten werden. Das kostet natürlich und muss vergütet werden. Dafür ist der Bund zuständig. Der muss nun vor allem eines tun: die Krankenhäuser vor dem finanziellen Kollaps bewahren und eine dauerhaft auskömmliche und gesicherte Finanzierung gewährleisten. Das ist bisher nicht geschehen, und das fordern wir mit Ihnen massiv ein. Es scheint auch immer noch so, dass der Bund die bei uns im Land bereits umgesetzten Strukturanpassungen nicht honorieren will. Wie sonst wäre es zu erklären, dass das Land von der neuen Vorhaltevergütung weniger erhalten soll, als es unserem Bevölkerungsanteil entspricht? Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und sollen jetzt quasi dafür bestraft werden? Das kann ja wohl nicht sein!

Minister Lucha hat zu Recht deutlich gemacht, dass hier noch dringend Änderungen notwendig sind. Wir brauchen eine wirksame Entlastung für unsere Krankenhäuser – nicht irgendwann, sondern jetzt.

Auch bei den Strukturen der Krankenhäuser müssen wir zweigleisig fahren. Wir brauchen ja immer beides: Krankenhäuser mit Schwerpunkbildung und Krankenhäuser mit Basisversorgung – auch und gerade in der Fläche. Darin sind sich alle einig, und das muss auch allen klar sein. Für die konkrete Krankenhausplanung ist und bleibt das Land zuständig. Auch darauf werden wir achten.

So viel zum Grundsätzlichen. Jetzt zum Konkreten: Inflation, Rückgang der Fallzahlen, Bettensperrung wegen Personalmangel und Ähnliches haben dazu geführt, dass die Kliniken im Land allein 2024 mit einem Defizit von rund 900 Millionen Euro rechnen müssen. Sie haben im Juli vom Bund eine mindestens vierprozentige Erhöhung der Krankenhausvergütung und eine Rücknahme bereits vorgenommener Kürzungen verlangt. Vom Land haben Sie eine Erhöhung der jährlichen Investitionsförderung um 300 Millionen Euro gefordert. Wir haben vor zwei Wochen im Kabinett unser Kommunales Sofortpaket beschlossen, Umfang 579 Millionen Euro nur für dieses Jahr. Neben großen Summen für Ganztagesausbau, Schulbauförderung und Flüchtlinge sind darin auch zusätzliche Gelder für die Krankenhäuser enthalten, nämlich 300 Millionen Euro für die nächsten beiden Jahre aus dem Landeshaushalt. Außerdem werden wir die Investitionsförderung aus dem KIF bis 2026 auf 570 Millionen Euro erhöhen. Wir werden dafür sorgen, dass ab 2026 die notwendigen Landesmittel zur Kofinanzierung von Bundesprogrammen zur Verfügung stehen. Ich denke, dass wir mit diesen Maßnahmen die Krankenhäuser in ihrer Notlage wirklich nach Kräften unterstützen.

Klar ist aber auch: Wir können nicht das kompensieren, was der Bund zu leisten hätte. Diese jeweils 150 Millionen Euro müssen ja aus der Rücklage entnommen werden. Da war es mir schon etwas flau; das muss ich sagen. Die Rücklage ist dazu da, dass wir für unvorhergesehene Dinge die Möglichkeit haben, finanziell liquide zu bleiben. Wir haben im Landeshaushalt wirklich jede herumliegende Zitrone, die es überhaupt noch gab, ausgepresst. Da müssen Sie verstehen: Wir sind nicht in einer anderen Situation als die Kommunen. Wir agieren auf Kante. Umgekehrt möchte ich sagen: Dass wir jetzt den Krankenhäusern über die Förderung der Digitalisierung Liquidität verschaffen können, können wir auch nur machen, weil dieses Land, seine Regierung eine solide Finanzpolitik macht, die vor dem Bundesverfassungsgericht oder vor dem Verfassungsgerichthof in Baden-Württemberg Bestand haben würde. Weil wir das so machen und immer genügend Rücklagen haben, sind wir überhaupt in der Lage, in großen Krisensituationen zu handeln. Aber auch wir sind jetzt einfach an der Kante. Das muss man einfach sehen.

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Damit komme ich jetzt zur Entlastungsallianz. Wir sind am 11. Oktober zusammengekommen, um zu beraten, ob und wie wir weitermachen wollen. Wir haben beschlossen: Wir machen weiter. Das ist ein ganz wichtiges Signal für die Partnerschaft von Land, Kreisen, Städten und Gemeinden, für unsere Wirtschaft und für die gemeinsame Handlungsfähigkeit von Staat und Kommunen bei diesem so wichtigen Thema.

Sie wissen, diese Allianz ist mir wichtig, und ich finde, sie leistet gute Arbeit. Sie löst konkrete Probleme und hat in den letzten elf Monaten zwei Entlastungspakete geschnürt, 120 ganz konkrete Entlastungen vereinbart. Das ist weit mehr, als wir uns zu Beginn vorstellen konnten. Das Land ist den Kommunalen Landesverbänden in vielen Punkten entgegengekommen. Es geht leicht unter: Aber es sind in der Mehrzahl die von Ihnen, von der kommunalen Ebene, gemeldeten Probleme, die wir gelöst haben oder lösen werden.

Sie wollen jetzt – ich nenne ein Beispiel – Spielräume bei der Anwendung von Standards, was wir ja mit dem Erprobungsparagrafen beim Kita-Gesetz schon gemacht haben. Jetzt wollen wir ein Kommunales Regelungsabweichungsgesetz. Wir haben das angestoßen, und jetzt sind wir ernsthaft dran. Nun müssen wir natürlich dafür sorgen, dass das in der Praxis auch funktioniert.

Ich darf jetzt mal ein bisschen plaudern aus unserer letzten Begegnung. Sofort taucht die Frage auf: Wer haftet? Da sehen Sie, wo der Hase im Pfeffer liegt. Diese ganze Bürokratie fällt ja nicht vom Himmel und ist nicht das Ergebnis wild gewordener Ministerialbürokraten. Die hat Gründe. Haftungsfragen sind ein Grund. Was glauben Sie denn, warum wir so aufwendige Berichtspflichten etwa in Krankenhäusern und im ganzen medizinischen Bereich haben? Haftungsfragen sind der Grund. Einer der Gründe, warum das amerikanische Gesundheitssystem so teuer ist, sind die Versicherungen der Ärzte, die diese machen müssen gegen Haftungsansprüche, einer der Treiber der großen Kosten im amerikanischen Gesundheitswesen.

Meine Damen und Herren, wenn wir die Ursachen von Bürokratie nicht angehen, dann werden wir scheitern, wie schon viele vor mir und vor uns gescheitert sind. An diesem Punkt sieht man: Das ist sofort ein Problem. Da bin ich ganz bei Ihnen. Da müssen wir auch die Mentalität in der Bevölkerung ändern. Sicherheitsdenken, Einzelfallgerechtigkeit, Gerichtsurteile, Haftungsfragen sind doch die Treiber.

Bringen wir es auf den Punkt: Der moderne Mensch ist doch beleidigt, wenn es nicht für irgendeine Frage, von der er betroffen ist, einen Schuldigen gibt. Dass es auch noch irgendetwas gibt, das vielleicht ein Lebensrisiko ist oder wo man einfach Pech gehabt hat, das ist völlig verschwunden. Es ist immer einer schuldig. Und wenn einer nicht schuldig ist – das kann dann nicht sein.

Da bin ich auch bei Ihnen: Da geht es um das ganze Anspruchsdenken. Das ist durch unsere sehr großzügigen Hilfen in der Corona-Zeit noch angetrieben worden, dass alle glauben, man kann alles ersetzen; zum Beispiel Wirtschaftsleistung. Das kann der Staat natürlich nicht. Wir haben vieles abwenden können, weil wir durch eine lange Prosperitätsphase in einer guten finanziellen Situation waren. Aber ich bin ganz bei Ihnen: So kann das nicht weitergehen. Wir kommen mit diesem Anspruchsdenken an unsere Grenzen. Und das Standarderprobungsgesetz ist eine Antwort darauf. Mit dem können Sie dann von Standards abweichen. Aber das wird Ihnen dann einen gehörigen Stress einbringen. Da dürfen wir uns nichts vormachen. Da stehen alle wieder auf der Matte.

Ich will aber noch ein Zweites sagen. Nicht jede Regelung, die einem nicht passt, ist ein Bürokratiemonster. So einfach geht es nicht. Ich habe das mit Ihnen diskutiert. Wir müssen unterscheiden: Teilen wir überhaupt das Ziel des Gesetzes oder nicht? Wenn wir das Ziel eines Gesetzes nicht teilen, ist das Gegenstand der politischen Auseinandersetzung, zum Beispiel zwischen politischen Parteien, die bekanntermaßen unterschiedliche Auffassungen haben. Das kann nicht prioritär die Aufgabe einer solchen Entlastungsallianz sein. Dafür ist sie im Kern nicht zuständig. Dafür ist im Kern das Parlament zuständig. Das muss darüber befinden, ob ein Ziel richtig oder falsch ist. Deswegen dürfen Sie es selbstverständlich kritisieren. Aber das sind Fragen, die kann ich nicht einfach lösen.

Etwas Anderes ist es, wenn wir uns im Ziel einig sind, aber über den Weg dorthin streiten. Das ist das Feld der Entlastungsallianz. Wie erreichen wir dasselbe Ziel, das wir teilen, auf möglichst bürokratiearme Weise, auf eine Weise, die nicht zusätzlich belastet, sondern entlastet? Das ist unsere Aufgabe. Daran arbeiten wir, und das ist mühsam.

Meine Damen und Herren, es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, dass wir eine Bürokratie, die in sieben Jahrzehnten gewachsen ist, einfach jetzt wegknipsen können. Den Schalter habe ich nicht, und ich behaupte, den hat auch sonst niemand. Wenn das Gestrüpp so groß ist, dann muss man es lichten und darf nicht glauben, man kann eine Aufgabe irgendwie wegputzen.

Das Gleichbehandlungsgesetz, das vorsieht, dass niemand diskriminiert wird, geht auf Art. 3 des Grundgesetzes zurück. Das ist eine allgemeine Verpflichtung und unmittelbar geltendes Recht zwischen Bürger und Staat. Das müssen wir erreichen, dazu sind wir verpflichtet, und jeder hat ein Anrecht darauf, dass er, aus welchem Grund auch immer, nicht diskriminiert wird.

Welchen Weg wir dazu beschreiten, darüber sollten wir trefflich streiten. Dazu bin ich auch bereit. Aber das Ziel haben wir zu teilen. Das Ziel steht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Das steht nicht in unserem Ermessen.

Wer das Ziel teilt, der muss dann andere, wirksamere Wege aufzeigen als die, die man vielleicht vorgeschlagen hat. Dafür bin ich immer offen. Das können Sie in fast jedem Interview von mir nachlesen: Klar in den Zielen, offen in den Wegen. Da werden wir zu einer Lösung kommen. Das kann ich Ihnen in dieser allgemeinen Form versprechen. Aber Kompromisse, mit denen alle zufrieden sind, sind höchst ungewöhnlich. Kompromisse sind meistens dann ganz ordentlich, wenn keiner so richtig mit ihnen zufrieden ist.

Ich nehme das Thema sehr ernst. Ich weiß, dass diese Überbürokratisierung und Überregulierung Deutschland einen Wettbewerbsnachteil bringt, den wir uns nicht leisten können. Es entmutigt aber auch die Leute, frustriert sie und hält sie von dem ab, was sie mit ihrem Engagement erreichen wollen. Da sind wir ganz beieinander.

Aber darum darf ich jetzt auch bitten: Wenn wir so etwas gemeinsam machen und man dann immer nur klagt: „Das ist zu wenig“, was hinterlässt das für einen Eindruck? Da denken alle: Die kriegen halt nichts hin. Es ist aber nicht so; wir kriegen etwas hin, und zwar Schritt für Schritt. Meine Lebenserfahrung ist wirklich lang, und meine politische ist auch sehr lang. Die heißt: Man kann die Welt nur in Schritten verbessern und in der Regel nur in kleinen. Aber die muss man auch gehen, konsequent, Schritt für Schritt, und dann kommt man ins Ziel. Ich hoffe, dass wir beim dritten Paket sagen: „Leute, wir haben was hingekriegt; das kann sich sehen lassen.“ Sie können hingucken, wo Sie wollen: Sie werden so ein Format einfach nicht finden.

Das Problem ist doch ganz einfach: Wir sind nur für einen sehr kleinen Anteil der Regulierung als Land alleine zuständig; für den großen Rest sind der Bund und die Europäische Union zuständig. Wir müssen bei solchen Formaten etwas hinbekommen, damit die, die das im Bund und in Europa viel dringender benötigen, ebenfalls machen. Auch da können wir Erfolge erzielen. Wir müssen also Prioritäten setzen und die Probleme substanziell angehen. Das werden wir machen.

Zum Schluss darf ich einfach noch mal sagen: Ich komme hierher und darf mich zwischen Sie alle setzen, damit alle denken: Der gehört auch irgendwie zur kommunalen Familie. Und dann werde ich halt gegrillt. Eine Grillparty, das ist halt so.

Ich nehme das sportlich. Sie formulieren da Ihre Suada an Kritik und Forderungen. Das muss ich mir halt anhören. Ich höre zu und nehme das auch ernst. Sie haben ja keine unsinnigen Klagen vorgebracht. Das kann man nun wirklich nicht behaupten. Wir müssen letztlich aushandeln, um was es da geht.

Dann kann man natürlich auch noch so einen kleinen populistischen Schwung reinbringen mit den Radkoordinatoren. Da kann man sagen: Das können wir ja wohl selber, und jetzt wollen die uns Radkoordinatoren aufzwingen.

Was ist Tatsache, Herr Präsident Landrat Walter? Ein Pilotprojekt in den vergangenen Jahren hat gezeigt, dass hier bei den Stadt- und Landkreisen ein Bedarf besteht. Bisher gab es ein freiwilliges Förderprogramm zur Einstellung von Radverkehrskoordinatoren mit einer Teilfinanzierung der Personalstellen durch das Land. 25 Stadt- und Landkreise haben an diesem Programm teilgenommen. Mit der neuen Regelung im Landesmobilitätsgesetz kommen die Radverkehrskoordinatoren flächendeckend zum Einsatz. So ist es einfach. Wir machen etwas aus Erfahrung und nicht, weil wir denken: Jetzt drücken wir denen noch Radverkehrskoordinatoren aufs Auge. Und wenn Sie die alle unbedingt nicht wollen, dann kriegen Sie sie halt nicht.

Ich darf mich nochmals recht herzlich bedanken für die Einladung und dafür, dass ich hier so lange reden durfte. Ich nehme Ihre Anliegen sehr ernst. Ich habe auch schon mit meinem Finanzminister darüber gesprochen. Wir brauchen vielleicht noch zusätzliche Formate, um das zu besprechen.

Ich kann Ihnen nur sagen: Die Bedeutung der Kommunen und der Landkreise ist uns und mir persönlich absolut bewusst. Ich bin ein großer Anhänger der Gemeindefreiheit. Die kommunale Selbstverwaltung ist eines der größten Pfunde. Es ist das, was der deutschsprachige Raum in die europäische Ideengeschichte eingebracht hat. Das war der Beitrag des deutschsprachigen Raums zur großen europäischen Ideengeschichte und macht unsere Stärke aus. Andere Nationen haben anderes beigetragen, die Französische Revolution zum Beispiel die Menschen- und Bürgerrechte.

Ich bin ein großer Freund der Kommunen und des Subsidiaritätsprinzips. Aber man sieht jetzt bei den Fragen der sogenannten Notfallpraxen. Die sind subsidiär geregelt durch die Kassenärztlichen Vereinigungen. Dann müssen die das auch erst mal machen und das vorlegen. Da kann man nicht gleich wieder sagen: Das muss der Staat machen.

Ich achte das Subsidiaritätsprinzip, und ich achte es aus innerer Überzeugung und nicht nur, weil Sie mich hier durch den Fleischwolf gedreht haben. Sie können sicher sein, dass wir nichts machen, was den elementaren Interessen der Kommunen entgegensteht. Wir ziehen beide an einem Strang und müssen schauen, dass wir das auch in die gleiche Richtung tun. Das wollen wir auch in Zukunft so halten.

Vielen Dank.

Winfried Kretschmann MdL ist Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg
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