Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer in den letzten Monaten die europäische Presse aufmerksam verfolgt hat, dem wird die wiederkehrende Schlagzeile nicht entgangen sein: „Deutschland: wieder der kranke Mann Europas“. Manche dieser Presseartikel konnten sich eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen, überwiegend aber waren sie von großer Sorge geprägt.
Und diese Sorge ist mehr als berechtigt. Wir befinden uns bereits im zweiten Jahr der Rezession. Das gab es zuletzt vor 20 Jahren. Die Industrieproduktion ist klar im Abschwung. Das deutsche Auslandsgeschäft kommt nicht vom Fleck. Das Konsumklima hat sich eingetrübt. Selbst auf den Arbeitsmarkt schlägt die konjunkturelle Schwäche inzwischen spürbar durch. Das Gespenst der betriebsbedingten Kündigungen scheint zurück zu sein.
Und da haben wir über die strukturellen Probleme noch überhaupt nicht gesprochen: die Infrastruktur, die Defizite im Bildungssystem, die Rückstände bei der Digitalisierung, die Herkulesaufgabe Energiewende und die China-Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft.
Hinzu kommen die gewaltigen geopolitischen Risiken, die sich fast täglich verschärfen: der schreckliche, von Russland verursachte und erbarmungslos geführte Krieg in der Ukraine, der vor einem Jahr durch den bestialischen Terrorangriff der Hamas ausgelöste militärische Konflikt im Nahen Osten mit Tausenden unschuldiger Opfer, aber etwa auch die hochgefährlichen Spannungen um Taiwan und im südchinesischen Meer.
Angesichts dieses düsteren Ausgangsbefunds klingt das Motto unserer diesjährigen Landkreisversammlung „Land und Landkreise – Gemeinsam Wandel gestalten“ doch sehr nach dem sprichwörtlichen Pfeifen im Walde.
Dies gilt umso mehr, als sich auch die Landkreise in einer definitiv durchaus krisenhaften Situation befinden, wie ich sie seit Beginn meiner Tätigkeit auf Landkreisebene – immerhin seit dem Jahr 1991 – noch nie erlebt habe. Denn die Landkreise versinken – wie auch die Städte und Gemeinden – in einer strukturellen Haushaltskrise bislang unbekannten Ausmaßes. Vielen im Saal dürfte bekannt sein, dass schon in diesem Jahr rund 80 % der Landkreise ihre Aufwendungen nicht mehr aus laufenden Erträgen werden erwirtschaften können und der Schuldenstand der baden-württembergischen Landkreise im laufenden Haushaltsjahr um unfassbare 30 %, nämlich um mehr als eine Milliarde Euro, ansteigen wird.
In den kommenden beiden Jahren zeichnet sich eine noch deutlich dramatischere Entwicklung ab. Denn zum einen werden bis Ende dieses Jahres die letzten mit Liquidität hinterlegten Rücklagen der Kreise weitestgehend aufgebraucht sein. Zum anderen spricht derzeit wenig dafür, dass es bei der dynamischen Kostenentwicklung speziell in den Bereichen Jugendhilfe, Eingliederungshilfe und Krankenhausversorgung zu einer Trendumkehr kommen könnte. Dass sich die Kreishaushalte im freien Fall befinden, ist daher keine Übertreibung, sondern nicht mehr als eine nüchterne Situationsbeschreibung.
Die Landkreise stehen wie die Städte und Gemeinden vor einem finanziellen Abgrund. Und wenn sie nicht vollends abstürzen sollen, dann brauchen die Kommunen nachhaltige, verlässliche Hilfe und Unterstützung. Es geht inzwischen um nicht weniger als um den Erhalt der kommunalen Daseinsvorsorge in ihrer bekannten Form. Es ist, meine Damen und Herren, die kommunale Selbstverwaltung schlechthin, die auf dem Spiel steht.
Um nicht missverstanden zu werden: Wir anerkennen durchaus und schätzen es, dass das Land, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, mit dem Soforthilfepaket 2024 den Kommunen in einigen ausgesuchten Bereichen kräftig unter die Arme greift.
Die zweimal 150 Millionen Euro für den Krankenhausbereich sind ein deutliches Signal, dass das Land unsere Sorge um den Erhalt einer funktionierenden Kliniklandschaft in Baden-Württemberg teilt. Auch hebt sich die Landesregierung hier positiv von der Bundesregierung ab, deren Bundesgesundheitsminister die systematische Unterfinanzierung der Kliniken presseöffentlich einräumt, zugleich aber komplett beratungsresistent eine Krankenhausreform durchzupeitschen versucht, die zu einer massiven Verschlechterung der Patientinnen- und Patientenversorgung speziell in Baden-Württemberg führen wird.
Ich kann Sie darin nur bestärken, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, die Geisterfahrt von Minister Lauterbach über den Vermittlungsausschuss zu stoppen. Der Entwurf der Ampel muss noch einmal grundlegend überarbeitet werden. Ich warne an dieser Stelle auch nochmals ausdrücklich vor den gesellschaftlichen Verwerfungen, die drohen, wenn es nicht gelingt, das schlingernde Krankenhauswesen wieder zu stabilisieren. Das Vertrauen der Menschen in unser Gesundheitswesen darf nicht verloren gehen.
Neben den zweimal 150 Millionen Euro für den Krankenhausbereich sehen wir auch, dass sich das Land im Rahmen des Soforthilfepakets sowohl bei den Investitionen in den Ganztag an Grundschulen massiv engagiert, als auch die Bundesmittel für die Geflüchteten in diesem Jahr vollumfänglich an die kommunale Familie weiterreicht. Wie gesagt, wir anerkennen dies ausdrücklich und wissen dieses Signal zu schätzen.
Allerdings müssen Sie verstehen, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, dass das Soforthilfepaket 2024 weder eine Verständigung zwischen Land und Kommunen für den Doppelhaushalt 2025/2026 noch eine grundlegende Verständigung über einen nachhaltig funktionierenden vertikalen Finanzausgleich zwischen Land und Kommunen ersetzen kann.
So werden die absolut begrüßenswerten 150 Millionen Euro für die Krankenhäuser in 2024 in der brutalen Realität unserer kommunalen Haushalte naheliegenderweise schon dadurch relativiert, dass die Landkreise allein im Regierungsbezirk Stuttgart ihre Krankenhäuser im laufenden Jahr mit über 450 Millionen Euro bezuschussen, also mit fast einer halben Milliarde Euro – und dies, obwohl die Landkreise überhaupt keine Finanzierungszuständigkeit für den Krankenhausbereich haben. Die Landkreise stehen hier als bloße Ausfallbürgen ein und müssen ungedeckte Schecks begleichen, die andere haben platzen lassen.
Vor allem aber bin ich enttäuscht und habe auch kein Verständnis dafür, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, dass wir bislang keine über das Jahr 2024 hinausgehende Verständigung im Hinblick auf die Kosten für Geflüchtete erzielt haben. In den zurückliegenden Jahren bestand zwischen Land und Kommunen ein staatspolitisch kluges – und ich meine auch: ein staatspolitisch selbstverständliches – Einvernehmen darüber, dass man sich in Finanzangelegenheiten über vieles streiten kann, dass man die Geflüchtetenkosten aber auf keinen Fall kommunalisieren darf.
Genau dies soll jetzt aber in großem Stil geschehen: Das Land will den Kommunen lediglich 3.750 Euro je neuem – ich betone: neuem – Asylantragsteller zur Verfügung stellen. Dies bedeutet, wenn die Asylbewerberzahlen so bleiben wie aktuell, dass die Gesamtheit der Kommunen in 2025 gerade einmal mit rund 85 Millionen Euro Geflüchtetenkostenerstattung rechnen kann. Die Landesregierung zeigt sich insofern komplett unbeeindruckt von den – wohlgemerkt gemeinsam errechneten – Nettobelastungen der Landkreise, Städte und Gemeinden in Höhe von im laufenden Jahr rund 1,2 Milliarden Euro für geflüchtete Menschen. 7 % Deckungsbeitrag des Landes auf diese Nettobelastungen sind weniger als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
Was heißt das übersetzt? Das heißt, dass die Landesregierung die Kommunen mit den Kosten für die Ukraine-Geflüchteten komplett alleine lässt. Und auch die Kosten für Geflüchtete, die bereits hier leben und Unterstützungsleistungen nach den Sozialgesetzbüchern erhalten, ignoriert das Land komplett. Die finanzielle Verantwortung wird hier nun plötzlich und, ich meine, auch rücksichtslos den Kommunen zugeschoben, nachdem man sich im vergangenen Jahr noch in einer Verantwortungsgemeinschaft sah.
Was bedeutet es aber, wenn man in dieser massiven Art und Weise Geflüchtetenkosten kommunalisiert? Dadurch werden die Debatten über diese Belastungen in die Gemeinderäte und Kreistage verlegt. Wie diese Debatten laufen, das wissen wir.
Genau solche unheilsamen Debatten wollten wir – Land und Kommunen – in der Vergangenheit gemeinsam verhindern. Jetzt wird es wohl unvermeidlich sein, dass es dazu kommt, und es wird Kräfte befeuern, die darauf nur warten. Herr Ministerpräsident, hier rasch wieder Verhandlungen mit der kommunalen Familie aufzunehmen, damit wir zu vernünftigen Lösungen gelangen und nicht noch Feuer an die Lunte legen, ist jetzt wichtig und entscheidend. Lassen Sie uns zu dem zurückkehren, was staatspolitisch klug ist und staatspolitisch selbstverständlich sein sollte. Wir müssen alles tun, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken, und dürfen ihn nicht fahrlässig aufs Spiel setzen.
Nun ist die massive kommunale Haushaltskrise, meine Damen und Herren, nicht vom Himmel gefallen. Sie hat Ursachen und vor allem eine Hauptursache: In den vergangenen Jahren sind die gesetzlichen Pflichtaufgaben der Landkreise beständig ausgeweitet worden, und die Erledigungskosten aus den bestehenden Pflichtaufgaben sind gleichzeitig massiv angestiegen – und dies, ohne dass die finanziellen Ausgleichsleistungen von Bund und Land mit dieser Entwicklung auch nur annähernd Schritt gehalten hätten.
Die Landkreise befinden sich damit in einer Situation, aus der sie sich selbst nicht befreien können. Denn die ihnen auferlegten Pflichtaufgaben müssen die Landkreise auch dann erfüllen, wenn sie nicht ausreichend finanziert sind. Das sind nun einmal die Regeln des demokratischen Rechtsstaats.
Hinzu kommt, dass vieles von dem, wozu ein Landkreis verpflichtet ist, von den Bürgerinnen und Bürgern ohnehin gerichtlich durchgesetzt werden könnte. Die Pflichtaufgaben der Landkreise fallen in vielen Fällen mit individuellen Rechtsansprüchen der Bürgerinnen und Bürger zusammen. Dies gilt insbesondere auch für den Sozialbereich, der bekanntlich über 60 % der Aufwendungen der Landkreise ausmacht.
Wer also glaubt, die Landkreise könnten sich wie einst Harry Houdini selbst entfesseln und sich aus eigener Kraft der unzureichend finanzierten Pflichtaufgaben entledigen, die oder der befindet sich nicht nur auf dem Holzweg, sondern verkennt auch unsere Verfassungsordnung.
Denn das Grundgesetz, dessen 75. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, sieht es als Aufgabe des Gesetzgebers an, den Umfang kommunaler Pflichtaufgaben einerseits und die dafür vorgesehene kommunale Finanzausstattung andererseits in Ausgleich und ins Gleichgewicht zu bringen. Hier ist der Gesetzgeber gefordert – und die Regierung ist in der Pflicht, dem Parlament durch entsprechende Initiativen Lösungspfade aufzuweisen.
Wir als Kommunen können hier nur unterstützend tätig werden. Natürlich müssen wir auch in den eigenen Häusern sehr sorgfältig hinschauen, wo wir an der einen oder anderen Stelle über den gesetzlich erforderlichen Rahmen hinausgehen. Das will ich auch gar nicht verschweigen, meine Damen und Herren. Aber wir müssen jetzt miteinander dieses Thema anpacken. Deshalb heißt das Motto unserer Landkreisversammlung, und das kann nur als entschiedene Zusage gewertet werden, lieber Herr Ministerpräsident: „Land und Landkreise – Gemeinsam Wandel gestalten“.
Dieses Bekenntnis zu einem partnerschaftlichen Miteinander gilt im Hinblick auf die bereits erwähnten finanzpolitischen Fragestellungen. Wir stehen bereit, um die Verhandlungen in der Gemeinsamen Finanzkommission zum Doppelhaushalt 2025/2026 unverzüglich fortzuführen. Es wäre kein gutes Signal, wenn es erstmals nicht gelingen würde, sich als Gemeinsame Finanzkommission auf eine Empfehlung an den Haushaltsgesetzgeber zu verständigen. Gerade in krisenhaften Zeiten müssen die unterschiedlichen staatlichen Ebenen zusammenstehen.
Wir regen außerdem an, in sehr grundsätzlicher Art und Weise darüber zu sprechen, wie durch eine Ertüchtigung des landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsprinzips die kommunale Selbstverwaltung besser geschützt werden kann. Denn noch enthält Art. 71 der Landesverfassung mit dem dort verbürgten Konnexitätsprinzip zu viele Schutzlücken. Auch hier kann und sollte die Gemeinsame Finanzkommission Abhilfe schaffen. Denn auch dafür ist sie nach § 34 des Finanzausgleichsgesetzes eingesetzt und berufen.
Insbesondere halten wir es für äußerst dringlich, die schwelende Frage der Geflüchtetenkostenerstattung einer Lösung zuzuführen, die auf den Erhalt des sozialen Zusammenhalts einzahlt. Hier ist besondere Eile geboten. Ich denke, ich habe dies mit dem nötigen Nachdruck deutlich gemacht.
Nun ist das Finanzpolitische das eine. Zum anderen und zugleich ist es uns ein zentrales Anliegen, dass Umfang und Tiefe kommunaler Aufgabenerledigung gesetzlich neu justiert werden, und zwar dergestalt, dass die Kommunen ihren – neudeutsch – Workload auch tatsächlich bewältigen können. Denn aktuell ist ihnen dies mit Blick auf sowohl ihre finanziellen als auch ihre personellen Kapazitäten nur noch gerade so, teilweise aber auch schon nicht mehr möglich. Anders formuliert: Viele Kommunen sind an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt, etliche bewegen sich teilweise auch schon jenseits dieser Grenze.
Der neue Präsident des Deutschen Landkreistags hat das mit dem schönen Satz auf den Punkt gebracht: „Wenn es Dukaten regnen würde, es würde uns trotzdem nicht helfen. Es fehlen uns die Menschen dazu.“
Dies ist brandgefährlich, meine Damen und Herren. Denn darunter leidet über kurz oder lang das Vertrauen der Menschen in die Leistungsfähigkeit des demokratischen Staates. Dabei ist doch gerade das Vertrauen in den Staat die wohl kostbarste Ressource eines demokratischen Gemeinwesens. Darauf hat früh kein Geringerer als der bedeutendste deutsche Philosoph, Immanuel Kant, hingewiesen, dessen 300. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern.
Dementsprechend fordern wir Kommunen nun schon seit geraumer Zeit eine konsequente Aufgabenkritik sowie einen systematischen Abbau von Standards und Regulierung. Wie Sie wissen, Herr Ministerpräsident, haben wir hier auch Erwartungen in die Entlastungsallianz gesetzt, die vor deutlich mehr als einem Jahr aus der Taufe gehoben wurde. Da ich es schon presseöffentlich gesagt habe, verrate ich kein Geheimnis, wenn ich auch heute festhalte, dass die Entlastungsallianz bisher erheblich hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben ist. Wir sehen zwar durchaus den einen oder anderen Lichtblick. Dies gilt insbesondere für die Erhöhung der Wertgrenzen im Vergaberecht. Doch insgesamt ist die Ausbeute deutlich zu mager angesichts der Herausforderungen, mit denen wir uns aktuell konfrontiert sehen. Wie Sie wissen, Herr Ministerpräsident, stehen wir mit dieser kritischen Einschätzung nicht alleine, sondern in komplettem Einvernehmen mit der Wirtschaft und den kommunalen Schwesterverbänden.
Ich bin daher froh, dass jetzt nach einem Gespräch mit Ihnen nochmals der Versuch unternommen werden soll, bis Anfang Dezember ein substanzielles Entlastungspaket zu schnüren. Dieses soll sich unter anderem an den Vorschlägen orientieren, die von der kommunalen Familie bereits im Mai als, wie wir meinen, rasch umsetzbare Entlastungsmaßnahmen eingebracht worden sind, um die etwas lahmende Entlastungsallianz in Schwung zu bringen. Zu diesen Entlastungsvorschlägen gehören unter anderem die Rückführung der Freistellungspflichten nach dem Landespersonalvertretungsgesetz auf den früheren Rechtszustand, die Begrenzung des Informationszugangsrechts des Landes auf das bundes- und europarechtlich zwingende Mindestmaß und die Entschlackung des Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetzes. Dieses dann dritte Entlastungspaket wird, meine Damen und Herren, der Lackmustest sein, ob die Entlastungsallianz wirklich spürbare Wirksamkeit entfalten kann.
Zugleich ist es mir wichtig, zu betonen, dass wir dann immer noch nicht bei den anstehenden weiteren dicken Brettern sind, die durchbohrt werden müssen, damit durch Aufgaben- und Standardkritik auch tatsächlich finanzielle und personelle Ressourcen in größerem Umfang freigeschaufelt werden. Das „wüste Brombeergestrüpp“ mag und soll durch ein Entlastungspaket III ein wenig gelichtet werden. Es bleibt aber im Wesentlichen intakt – mit all seinem Dickicht, seinen Dornen und Stacheln.
Um einen wirklichen Wandel zu erreichen und diesen zu gestalten, braucht es deutlich weitergehende Ansätze. Dabei muss man insbesondere die Bereiche in den Blick nehmen, wo aktuell finanzielle und personelle Ressourcen massiv gebunden werden. Dort dürfte zwar vielfach der Bundesgesetzgeber gefordert sein. Allerdings hat das Land über den Bundesrat ganz maßgeblich Anteil an der Bundesgesetzgebung. Dieser Hebel sollte kraftvoll genutzt werden – idealerweise im Zusammenspiel mit den jeweiligen Bundestagsfraktionen.
So muss beispielsweise die Eingliederungshilfe vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werden, damit die Zusage des Gesetzgebers eingelöst wird, nämlich mehr passgenaue Teilhabe und mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung zu ermöglichen, ohne dabei eine neue Ausgabendynamik zu begründen. Derzeit fließen freilich viel zu viele Mittel, die eigentlich den Menschen zugutekommen sollten, in die Bürokratie. Hier ist, wie ich meine, eine grundlegende und rasche Reform dringend geboten.
Im Krankenhausbereich ist es unerträglich, dass Pflegekräfte sowie Ärztinnen und Ärzte ein Drittel ihrer Arbeitszeit für Bürokratie einsetzen müssen. Hier braucht es eine breit angelegte Bereinigung, die dann gleich auch auf die ambulante und stationäre Pflege übertragen werden könnte.
Aber nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf Landesebene gibt es Möglichkeiten, dem „wüsten Brombeergestrüpp“ nicht bloß mit der Nagelschere, sondern mit der Motorsense zu Leibe zu rücken. Um die massive Belastung von Wirtschaft und Verwaltung durch unzählige Genehmigungsverfahren zu reduzieren, sollten beispielsweise sämtliche landesrechtlichen Zulassungserfordernisse kurzfristig auf ihre Entbehrlichkeit überprüft werden. Hierzu ist im Rahmen der Entlastungsallianz ein Kriterienkatalog entwickelt worden, der bestens geeignet ist, um in strukturiert-systematischer Weise zur Verfahrensderegulierung beizutragen.
Je schneller die einzelnen Ressorts die von ihnen verantworteten Genehmigungsverfahren anhand des genannten Kriterienkatalogs überprüfen und zu einem konstruktiven Vorschlag gelangen, desto eindrücklicher kann die Ministerialbürokratie belegen, dass sie in Sachen Entlastung nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung ist. Wären wir nicht alle freudig überrascht, wenn es den Ministerien gelänge, auf dieser Basis bis 31. Januar kommenden Jahres konkrete Eckpunkte für ein umfassendes Vorhabenentfesselungsgesetz vorzulegen, in dem für alle landesrechtlichen Fachgesetze konkrete Vorschläge zur Verfahrensderegulierung gemacht werden? Ich jedenfalls würde mich freuen, wenn die Landesregierung, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, diese große Herausforderung – oder sagen wir: diese Wette auf die Zukunft – annehmen würde. An unserer politischen und fachlichen Unterstützung soll es dabei nicht fehlen.
Nun geht es, meine Damen und Herren, aktuell – leider – nicht nur darum, den Gesetzgeber davon zu überzeugen, dass die Landkreise, Städte und Gemeinden von entbehrlichen Aufgaben und Standards entlastet werden müssen. Vielmehr erweist es sich bedauerlicherweise als notwendig, den Gesetzgeber von zusätzlichen Belastungen abzuhalten. Denn ganz offensichtlich haben noch nicht alle begriffen, in welcher tiefgreifenden Krise wir uns befinden und was die Ursachen dafür sind.
So habe ich keinerlei Verständnis dafür, dass das Land Baden-Württemberg bei der Umsetzung des Saubere-Fahrzeuge-Beschaffungsgesetzes im Unterschied zu allen anderen Flächenbundesländern einen Sonderweg gehen möchte und dafür ein Landesmobilitätsgesetz mit völlig überflüssigen, bürokratieträchtigen Spezialregelungen plant. Stattdessen sollte sich Baden-Württemberg der sogenannten Branchenvereinbarung anschließen, die bundesweit Ausgleichsmöglichkeiten zwischen verschiedenen ÖPNV-Aufgabenträgern bzw. Verkehrsunternehmen bei der Über- und Untererfüllung der Bundesquoten für emissionsarme Busse vorsieht.
Denn auch wenn dies eine deutsche Spezialität zu sein scheint, sollten wir die Dinge nicht immer komplizierter machen, also sie sind. Damit ist niemandem gedient – insbesondere auch nicht dem Klimaschutz, der bei noch so unsinnigen Gesetzesvorhaben gerne als vermeintliches Totschlagargument ins Feld geführt wird.
Das Landesmobilitätsgesetz zeigt damit auch einmal mehr auf, wie sinnvoll die Forderung der Kommunalen Landesverbände im Rahmen der Entlastungsallianz ist, in Baden-Württemberg per Gesetz das sogenannte „Goldplating“ zu verbieten. Das Draufsatteln auf europäisches Recht und auf Bundesrecht mit Verschärfungen im Landesrecht ist kontraproduktiv und zeigt, dass ihre Urheber die Zeichen der Zeit überhaupt noch nicht erkannt haben.
Und weil ich schon beim Landesmobilitätsgesetz bin: Den Landkreisen mit diesem Gesetz Radverkehrskoordinatorinnen und -koordinatoren aufs Auge drücken zu wollen, zeugt von einem tiefen Unverständnis der kommunalen Selbstverwaltung und auch der kommunalen Situation. Kommunen brauchen keine Staatsbeauftragten, sondern ausreichend Finanzmittel, um die vom Staat übertragenen Aufgaben eigenverantwortlich umsetzen zu können. Vermutlich wäre es kein Fehler, wenn in den Ministerien wieder mehr Menschen arbeiten würden, die zuvor verschiedene Ebenen der baden-württembergischen Landes- und Kommunalverwaltung durchlaufen und ihre spezifische Funktionsweise kennengelernt haben. Auch deshalb warne ich übrigens vor Eingriffen ins Laufbahnrecht, die zu unserer baden-württembergischen Mehr-Ebenen-Verwaltung einfach nicht passen.
Zum zuletzt intensiv diskutierten Gleichbehandlungsgesetz haben, meine Damen und Herren, der Vorsitzende des Normenkontrollrats, Dr. Dieter Salomon, und der Chef der Staatskanzlei, Dr. Florian Stegmann, das Nötige bereits gesagt. Dafür an dieser Stelle herzlichen Dank an beide für ihre klaren Worte und ihre Absage an ein offensichtlich ideologiebasiertes Gesetzesvorhaben!
Lassen Sie mich daher ergänzend nur noch auf die, wie ich meine, sehr zutreffende Kritik der an dieser Stelle sicherlich unverdächtigen Rechtsanwaltskammern hinweisen. Die Anwaltschaft hat ihre dezidierte Ablehnung des Gleichbehandlungsgesetzes im Wesentlichen damit begründet, dass dieses Gesetz Ausdruck eines generalisierten Misstrauens gegen die Träger der öffentlichen Verwaltung sei und der dort vorgesehene Entschädigungsanspruch nicht nur unnötig, sondern im Hinblick auf die deutsche Rechtsordnung regelrecht systemwidrig sei. Dem ist nichts hinzuzufügen – außer vielleicht das Diktum des französischen Aufklärungsphilosophen Montesquieu, der dem Gesetzgeber zu Recht Folgendes ins Stammbuch geschrieben hat: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend ein letztes Mal auf das Motto unserer Landkreisversammlung zurückkommen: „Land und Landkreise – Gemeinsam Wandel gestalten“. Die Herausforderungen des Wandels, der Transformation sind riesig – zweifellos. Dazu muss man sich bloß die drei großen D, also die Megatrends der Digitalisierung, des demografischen Wandels und der Dekarbonisierung, vor Augen halten und nur für einen Moment darüber nachdenken, wie grundlegend diese disruptiven Prozesse allein schon unser ganz persönliches Leben verändert haben, von den übergreifenden, globalen Auswirkungen dieser grundstürzenden Veränderungsprozesse ganz zu schweigen.
Allerdings ist eines auch klar: Es bringt uns nicht weiter, wenn wir angesichts dieser gewaltigen Herausforderungen und Problemlagen erstarren wie das Kaninchen vor der Schlange. Vielmehr ist es entscheidend, dass Land und Kommunen hier beharrlich an Lösungen arbeiten. Denn nichts wäre fataler, als wenn wir in unserem Bundesland bis Ende übernächsten Jahres in Stillstand verfallen würden.
Dabei muss es uns natürlich auch um die großen Lösungen gehen. Ich erinnere nochmals an die Wette auf die Zukunft in Sachen Vorhabenentfesselungsgesetz, sehr geehrter Herr Ministerpräsident. Aber es geht zugleich auch um die kleinen und vielleicht auch um die kleinteiligen Lösungen.
Dies setzt voraus, dass wir gerade bei diesen kleineren, einfacheren Themen schneller werden, rascher Lösungen finden und uns nicht in frustrierenden Endlosschleifen verlieren. Ansonsten bleiben nicht nur diese Themen auf der Strecke, sondern erst recht die eigentlichen Herausforderungen.
Aktuell nehmen wir allerdings wahr, dass es genau an dieser Einstellung und Bereitschaft fehlt, überschaubare Themen schnell auf die Straße zu bringen, sie einfach mal durchzuhauen, um vorwärtszukommen. Beispiel Digitalisierung: Warum braucht es unzählige Monate, um eine dringend benötigte Digitalisierungsvereinbarung zwischen Land und Kommunen fortzuschreiben? Beispiel demografischer Wandel: Weshalb fällt es so schwer, sich trotz eines mit Händen zu greifenden Pflegenotstands auf belastbare Planungs- und Prognosedaten zu verständigen? Beispiel Dekarbonisierung: Weshalb erhalten die kommunalen Aufgabenträger im ÖPNV keine rechtliche Finanzierungssicherheit im Hinblick auf das Deutschland-Ticket – Stichwort Tarifanwendungsbefehl –, obwohl doch die Zusage des Landes steht, dass an den Kommunen finanziell nichts hängen bleiben soll, und dem ÖPNV für die Erreichung der Klimaschutzziele des Landes eine zentrale Bedeutung zukommt?
Wir müssen, meine Damen und Herren, im Kleinen wie auch im Großen besser werden. Sonst wird der Wandel, sonst wird die Transformation von uns nicht gestaltet, sondern lediglich erlitten. Und sonst bleibt Deutschland der kranke Mann Europas – mit unabsehbaren Folgen für Wohlstand und sozialen Zusammenhalt. Wir Landkreise wollen das nicht, und wir werden deshalb unseren Teil dazu beitragen, dass es so auch nicht kommt. Wir wollen den notwendigen Wandel kraftvoll mitgestalten!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich nun mit Ihnen auf die Rede unseres Ministerpräsidenten.