Und in der Tat: Infolge des verbrecherischen Angriffskriegs Putins auf die Ukraine sind die Zeiten hierzulande so schwer wie noch nie seit der Nachkriegszeit. Frieden und Freiheit sind auch für uns brüchig geworden. Die massiven Gefahren für Wohlstand und sozialen Zusammenhalt sind mit Händen zu greifen.
Auch in dieser Zeitenwende wollen die Landkreise das sein, was sie in den vergangenen Krisen gewesen sind: stark und verlässlich.
Die Ausgangsvoraussetzungen dafür sind an sich gut. Durch die Kreisgebietsreform, deren 50-jähriges Jubiläum wir im kommenden Jahr miteinander feiern wollen, sowie durch die Verwaltungsreformen von 1995 und vor allem von 2005 ist auf Landkreisebene eine hochgradig leistungsstarke Verwaltungseinheit geschaffen worden, die in einer, wie ich meine, im Bundesvergleich mustergültigen Weise Verwaltungsstärke und Professionalität mit Ortskunde sowie Kommunal- und Bürgernähe verbindet.
So belegen nicht zuletzt die Erfahrungen der Migrationskrise 2015/2016 und die der Corona-Krise seit dem Frühjahr 2020, wie richtig es war, die behördlichen Kompetenzen der unteren Verwaltungsebene in 35 Landratsämtern zu bündeln.
Nur weil die Landkreise so stark aufgestellt sind, wie dies bei uns in Baden-Württemberg nun einmal der Fall ist, war es den Landratsämtern im Sommer 2015 aus dem Stand heraus möglich, eine große Zahl von Geflüchteten kurzerhand unterzubringen, auch wenn ihnen die Ankunft der Schutzsuchenden jeweils nur kurz zuvor angekündigt worden war.
Stellen wir uns nur einen Moment vor, wie wir zu Hochzeiten von Corona dagestanden wären, wenn es noch die eigenständigen Gesundheitsämter als staatliche untere Sonderbehörden gegeben hätte. Die Kontaktpersonenverfolgung war nur möglich, weil so gut wie alle Organisationseinheiten des Landratsamts für das Gesundheitsamt mitgearbeitet haben.
Und als Ende des Jahres 2021 die zuvor geschlossenen Impfzentren plötzlich wieder geöffnet werden mussten, weil eine Überlastungsanzeige der Ärzteschaft vorlag, konnte der Neustart auch nur klappen, weil die Landratsämter die nötige Verwaltungs-Power dazu aufgebracht hatten. Eine rein staatliche Gesundheitsverwaltung wäre hier heillos überfordert gewesen.
Die Landkreise in Baden-Württemberg, meine Damen und Herren, sind nach allem eigentlich so konfiguriert und aufgestellt, dass sie auch in schweren Zeiten Stärke und Verlässlichkeit bieten können. Dessen sind wir uns bewusst, darauf sind wir auch ein wenig stolz und darauf konnten sich sowohl das Land als auch die Bürgerinnen und Bürger bisher immer verlassen.
Umso ernster und alarmierender ist dann allerdings die Lage, wenn ich Ihnen heute in aller Deutlichkeit und mit hoher Dringlichkeit sagen muss, dass wir uns aktuell als Landkreise bei aller Stärke und Verlässlichkeit auf einer abschüssigen Bahn bewegen. Die Landkreisverwaltungen drohen in eine Überforderungssituation hineinzurutschen, wenn jetzt nicht entschieden gegengesteuert wird.
Zu dieser besorgniserregenden Lage trägt aktuell in besonderer Weise die Herausforderung der Geflüchtetenaufnahme bei. Es gibt darüber hinaus aber auch tiefer liegende, strukturelle Gründe für diese drohende Überforderung der unteren Verwaltungsebene. Auf beides will ich im Folgenden näher eingehen.
Bei der Geflüchtetenaufnahme sind vielerorts die Aufnahmekapazitäten nahezu erschöpft, und auch in bislang noch aufnahmefähigen Raumschaften wird man wohl in absehbarer Zeit an die Grenzen des Leistbaren stoßen. Dabei liegt die Herausforderung für die Landkreise nicht nur darin, Aufnahmekapazitäten zu schaffen. Es braucht auch Personal, um Unterbringung, Versorgung und Betreuung zu organisieren. Da sich der Personalaufwuchs angesichts eines quasi leer gefegten Arbeitsmarktes äußerst schwer gestaltet, fällt bei der Stammbelegschaft Mehrarbeit an. Die Stammbelegschaft freilich ist nach Jahren der Dauerkrise nur noch begrenzt zusätzlich belastbar.
Hinzu kommt, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung ein Stück weit erodiert. Aufgabe der Landkreise als Teil des Staates ist es, dieses verloren gehende Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen. Schließlich werden die Städte, die Gemeinden und die Landkreise vor Ort als „der Staat“ wahrgenommen. Es fällt aber zunehmend schwerer, dieses Vertrauen zurückzugewinnen, wenn man als Landkreis, von dem die Bürgerschaft zuerst pragmatische Lösungen erwartet, keine solchen Lösungen präsentieren kann. Denn der Schlüssel zu Lösungen liegt vielfach nicht auf der Kreisebene.
Allein schon diese knappe Schilderung wirft ein Schlaglicht auf die immense Herausforderung, vor der die Landkreise im Kontext der Flüchtlingsaufnahme stehen – eine Herausforderung wohlgemerkt, die schneller, als uns allen lieb sein kann, in eine Überforderung umschlagen könnte.
Vor diesem Hintergrund habe ich die dringende Bitte an Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, dass die von Ihnen geführte Landesregierung alles, wirklich alles unternimmt, um die Landkreise bei der humanitären Aufgabe der Geflüchtetenaufnahme nach Kräften zu unterstützen, in tatsächlicher wie auch in finanzieller Hinsicht.
Wir erwarten erstens, dass die ungesteuerte Sekundärmigration von Menschen aus der Ukraine, die bereits in anderen Ländern Schutz gesucht haben, wirksam unterbunden wird. Hier muss das Land den Bund in ganz anderer Weise als bisher in die Pflicht nehmen und insbesondere auch ein anderes Auftreten des Bundes auf europäischer Ebene einfordern. Es kann nicht sein, dass allein Baden-Württemberg deutlich mehr Ukraine-Geflüchtete beherbergt als ganz Frankreich, das Mutterland der Menschenrechte.
Wir erwarten zweitens, dass Baden-Württemberg eine Bundesratsinitiative startet, um den Rechtskreiswechsel der Ukraine-Geflüchteten aus dem Asylbewerberleistungsgesetz ins SGB II rückgängig zu machen.
Gleichzeitig soll im Bundesrat ein Beschluss herbeigeführt werden, wonach die Länder sich dezidiert gegen die Ausweitung des Rechtskreiswechsels auf andere Gruppen von Schutzsuchenden aussprechen. Denn durch den Rechtskreiswechsel und die damit verbundenen höheren Sozialleistungen wird bei den flüchtenden Menschen der Anreiz geschaffen, statt in anderen EU-Ländern, wo sie teilweise schon sind, gerade nicht zu bleiben, sondern in Deutschland Schutz zu suchen. Dadurch wiederum rückt eine europaweit faire Verteilung der Schutzsuchenden in immer weitere Ferne. Dabei ist doch genau diese faire Verteilung der Geflüchteten innerhalb der Europäischen Union das Ziel sowohl der Landes- als auch der Bundesregierung. Zudem bieten die im Vergleich zu anderen europäischen Staaten höhere Sozialleistungen auch nicht den erhofften Anreiz, Arbeit aufzunehmen. Teilweise lassen die Flüchtlinge ein Erstaunen darüber erkennen, dass man in Deutschland – ich zitiere wörtlich eine Aussage – „so viel Geld und eine Wohnung bekommt, ohne dafür arbeiten zu müssen“.
Wir erwarten drittens, dass Bund und Land die Kreise bei der Flüchtlingsaufnahme zum einen durch die Zurverfügungstellung eigener Liegenschaften unterstützen und sie zum anderen bei Verwaltungsaufgaben entlasten, jedenfalls aber nicht noch zusätzlich belasten. Hier muss ich offen sagen, dass die 4.000 zusätzlichen Plätze, die auf dem jüngsten Flüchtlingsgipfel von der Bundesinnenministerin in Aussicht gestellt wurden, nicht mehr sind als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Heruntergebrochen auf Baden-Württemberg reicht das gerade mal für ein bis zwei Tage.
Ich möchte dabei aber betonen, dass es uns nicht darum geht, zu verhindern, Menschen, die direkt aus den Kriegsgebieten zu uns kommen, Schutz zu bieten und sie unterzubringen. Aber Sekundärmigration, meine Damen und Herren, muss in der Tat unterbunden werden. Sonst wird es uns nie gelingen, eine europäische Flüchtlingsverteilung in Gang zu bringen.
Bei der angesprochenen Verwaltungsunterstützung geht es beispielsweise um die Entgegennahme des Asylantrags. Diese Aufgabe soll dem Vernehmen nach kurzerhand an die unteren Ausländerbehörden durchgereicht werden, weil sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hierzu plötzlich personell nicht mehr in der Lage sieht und auch nicht will, dass in Baden-Württemberg die Erstaufnahmestellen, obwohl sie dies angeboten haben, diese Aufgabe wahrnehmen. Zuvor war schon die erkennungsdienstliche Behandlung der ukrainischen Flüchtlinge auf die unteren Ausländerbehörden delegiert worden. Lassen Sie mich dies nur wie folgt kommentieren: Dass den Letzten die Hunde beißen, ist eine geläufige Redensart, aber sicher kein taugliches Prinzip guter Verwaltung. Und weil wir schon bei Sprichwörtern sind: Auch für die kommunalen Verwaltungen gilt, dass der Krug nur so lange zum Brunnen geht, bis er bricht.
Viertens – und last, but not least – erwarten wir, dass das Land die Nettomehrbelastungen der Kreise umfassend ausgleicht, die auf Sozialleistungen für Flüchtlinge zurückzuführen sind. Andernfalls provoziert man in den Kreistagen und in den Gemeinderäten Debatten über die Flüchtlingskostenfinanzierung, also unheilvolle Diskussionen darüber, weshalb ein bestimmtes Bauprojekt, eine bestimmte soziale Maßnahme, eine bestimmte Vereinsförderung gerade wegen der finanziellen Belastung durch die Geflüchtetenaufnahme eingestellt werden muss. Solche kommunalpolitischen Auseinandersetzungen tunlichst zu vermeiden war bis Sommer dieses Jahres stets die gemeinsame Leitschnur von Land und Kommunalen Landesverbänden bei den Verhandlungen zur Flüchtlingskostenerstattung gewesen, und dies aus gutem Grund. Daher, lieber Herr Ministerpräsident, sollte das Land rasch zur Vollkostenerstattung für die Flüchtlingsaufnahme zurückkehren. Alles andere wäre gerade im Blick auf die aktuelle Stimmungslage ein politischer Fehler. Denn der soziale Zusammenhalt ist auch so gefährdet genug, meine Damen und Herren.
Ich hatte es bereits angesprochen: Die Überforderungssituation, in die die Landkreisverwaltungen abzugleiten drohen, ist nicht nur der aktuellen Situation geschuldet. Es gibt da auch tiefer liegende, nämlich strukturelle Gründe, und das macht das Ganze noch gefährlicher. Auf zwei dieser strukturellen Ursachen für die drohende Überforderung der kommunalen Ebene will ich kurz eingehen.
Die Überforderungstendenz ergibt sich erstens daraus, dass auf übergeordneten Staatsebenen ständig neue Aufgaben, Rechtsansprüche und Standards definiert werden, die anschließend von der kommunalen Ebene bewältigt werden müssen, ohne dass dafür die notwendigen finanziellen Ressourcen bereitgestellt werden – und im Übrigen auch ohne Rücksicht auf den leer gefegten Arbeitsmarkt.
Die Beispiele dafür sind Legion: Datenschutz, § 2 b Umsatzsteuergesetz, Antidiskriminierungsgesetz, Dokumentationspflichten in Kita und Pflege, Förderdschungel, aber auch das Bundesteilhabegesetz und vieles mehr.
Exemplarisch will ich hier den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder herausgreifen. Dieser Anspruch richtet sich – dies geht in der öffentlichen Diskussion bisweilen vollständig unter – unmittelbar gegen die Kreise.
Die kommunale Familie hatte bekanntlich eindringlich davor gewarnt, einen entsprechenden Rechtsanspruch zu fixieren. Dies nicht etwa deshalb, weil man gegen den Auf- und Ausbau einer bedarfsgerechten Ganztagsbetreuung an Grundschulen wäre. Nein, das genaue Gegenteil ist der Fall: Die Kommunen wissen, dass die Ganztagsbetreuung an Grundschulen nicht nur der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und – damit zusammenhängend – der Milderung des Arbeitskräftemangels dient; sie ist zugleich elementar für eine chancengleiche Bildungsteilhabe aller Kinder.
Allerdings war uns Kommunen – und nicht nur uns – von Beginn an klar, dass es allein schon wegen des Mangels an pädagogischem Fachpersonal ein Ding der Unmöglichkeit sein würde, die mit dem Rechtsanspruch verbundenen Erwartungen bis 2026 vollends zu erfüllen. Dennoch hat dieser Rechtsanspruch seinen Weg ins Bundesgesetzblatt gefunden, und zwar auch mit Zustimmung des Landes Baden-Württemberg, sehr geehrter Herr Ministerpräsident.
Genau nach diesem Muster freilich entstehen Überforderungssituationen: Die Landkreise sehen sich einem Rechtsanspruch ausgesetzt, der an sich schon schwerlich zu erfüllen ist. Hinzu kommt, dass sie nicht einmal Träger der allgemeinen Grundschulen sind und daher auch nicht Anbieter der an Grundschulen bereits existierenden Ganztagsbetreuungsangebote. Auch in dieser Hinsicht ist es nachgerade unsinnig, meine Damen und Herren, allein die Landkreise für die Ganztagsbetreuung an Grundschulen verantwortlich zu machen, und dies auch noch qua Rechtsanspruch. Und trotzdem hat man es gemacht.
Warum? Weil Symbolpolitik inzwischen offenbar wichtiger ist als das Bohren dicker Bretter. Und weil es Bund und Ländern in kollusivem Zusammenspiel darum gegangen ist, der kommunalen Ebene das Ganze vor die Füße zu kippen, ohne einen Konnexitätsfall auszulösen.
Was tun? Am besten wäre es natürlich, wenn der Rechtsanspruch revidiert würde und mit der kommunalen Ebene sorgsam abgestimmt würde, wie sich der schulische Ganztag bedarfsgerecht, aber eben auch im Rahmen des Leistbaren fortentwickeln lässt. Zumindest aber muss das Betreuungssystem landesrechtlich so geordnet werden, dass durch Einbindung von Vereinen, Musikschulen und weiteren Playern der Betreuungsanspruch faktisch eingelöst werden kann und die kommunalen Schulträger mit den notwendigen Zuständigkeiten und Finanzen ausgestattet werden.
Meine Damen und Herren, außer aus der eben diskutierten Überregulierung erwächst die zunehmende Überforderung der Landkreise in struktureller Hinsicht zweitens daraus, dass diese immer häufiger als Ausfallbürgen einspringen müssen, weil die gesetzlich vorgesehenen Regelsysteme nicht mehr richtig funktionieren.
So müssen die Kreise beispielsweise in immer größerem Umfang Krankenhausdefizite abdecken. Dabei gibt es regulär gar keine kommunale Finanzierungszuständigkeit im Krankenhausbereich. Wie kommt es zu dieser faktischen Ausfallbürgschaft der Landkreise? Nehmen wir das Beispiel der sogenannten Pauschalförderung. Das ist die pauschale Förderung von Wieder- und Ergänzungsbeschaffungen etwa im Bereich der medizinischen Geräte, und diese Pauschalförderung ist natürlich ungemein wichtig, damit Krankenhäuser mit den medizinischen Entwicklungen Schritt halten können. Das Landeskrankenhausgesetz verpflichtet das Land, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, an sich ausdrücklich dazu, diese Pauschalförderung regelmäßig an die Kostenentwicklung anzupassen. Das Land freilich kommt dieser gesetzlichen Verpflichtung einfach nicht nach, und dies schon seit zehn Jahren. Anders formuliert: Weil das System Krankenhausinvestitionsförderung nicht regelkonform funktioniert, müssen die Kommunen regelwidrig in die Bresche springen und den ungedeckten Scheck des Landes übernehmen. Dieser beläuft sich aktuell auf über 50 Millionen Euro pro Jahr.
Ein weiteres Beispiel: Die Landkreise müssen Schülerinnen und Schülern mit Handicaps selbst dann eine Schulbegleitung an die Seite stellen, wenn diese ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum, also eine früher sogenannte Sonderschule, besuchen. Dabei handelt es sich doch gerade um einen Schultyp, der extra für die Schülerinnen und Schüler mit Behinderung geschaffen worden ist. Dennoch muss der Kreis von außen mit einem ambulanten Angebot unterstützen. Warum? Weil das Regelsystem Schule defizitär ist und das Land nur unzureichend Fachkräfte bereitstellt. Diese Ausfallbürgschaft kostet die Kreise Jahr für Jahr einen hohen zweistelligen Millionenbetrag.
Als wir vor vielen Jahren über das Thema Inklusion verhandelt haben – lieber Herr Stoch, wir waren damals in den Gesprächen –, ist das Land sehr optimistisch davon ausgegangen, dass die Stärkung der Lehrerschaft im sonderpädagogischen Bereich stattfinden kann. Sie ist bis heute nicht erfolgt.
Meine Damen und Herren, die Überforderungssituation, in die die untere, kommunale Verwaltungsebene immer mehr verstrickt wird, droht unsere Staatlichkeit an der Wurzel zu beschädigen, und das dürfen wir nicht zulassen. Daher will ich noch einmal drei zentrale Erwartungen formulieren, von denen ich weiß, dass sie nicht nur den Landkreisen, sondern auch den Städten und Gemeinden sehr am Herzen liegen.
Erstens: Wir brauchen dringend eine ehrliche Debatte und vor allem auch schnelle Entscheidungen zu den politischen Prioritäten und Posterioritäten. Nicht alles, was wünschenswert ist, kann auch geleistet werden. Mehr noch: Manches von dem, was wir vor der Zeitenwende noch als zwingend erforderlich und unverzichtbar angesehen haben, lässt sich heute schlichtweg nicht mehr realisieren und umsetzen. Wenn vor diesem Hintergrund im Zuge landespolitischer Posteriorisierungen bestimmte Vorhaben zurückgestellt oder aufgegeben werden, kann das Land, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, davon ausgehen, dass wir dies nicht nur loyal mittragen, sondern auch ausdrücklich befürworten, unterstützen und in der Öffentlichkeit auch offensiv vertreten werden. Dies gilt ausdrücklich auch für schwierige Entscheidungen, die uns, den Landkreisen, sehr wehtun würden, wie etwa die Abkehr von einer gesetzlich verankerten Mobilitätsgarantie.
Zweitens: Sollen vom Land priorisierte Aufgaben von den Kommunen umgesetzt werden, so müssen sie auch auskömmlich finanziert sein. In diesem Zusammenhang sollte das Konnexitätsprinzip der Landesverfassung nachgeschärft werden. Denn dieses enthält noch etliche sogenannte „Schutzlücken“. Das ist der vornehme Ausdruck dafür, dass sich das Land eine Reihe von Schlupflöchern offengehalten hat. Das Konnexitätsprinzip kann aber nur funktionieren und seine disziplinierende Wirkung entfalten, wenn es ernst genommen wird und wenn es rechtlich stabil verankert ist. Wenn Kommunen neue Aufgaben schultern sollen, dann müssen sie auch mit den dafür erforderlichen Ressourcen ausgestattet werden. Hier darf es auch verfassungsseitig, meine Damen und Herren, kein Vertun geben. Ansonsten kommt es zu Überforderungen und in der Folge auf Bürgerinnen- und Bürgerseite zu Vertrauensverlusten, die auf Dauer an der Substanz von Staat und Demokratie zehren.
Drittens: Es muss dringend zu Standardabbau, Verfahrensvereinfachung und Entbürokratisierung kommen. Ohne Reduzierung von Komplexität werden die kommunalen Verwaltungen nicht mehr aus dieser Überforderungsfalle herauskommen. Dabei darf man die Themen Standardabbau, Verfahrensvereinfachung und Entbürokratisierung keinesfalls den betreffenden Ressorts überlassen. Wer einen Sumpf trockenlegen will, darf nicht die Frösche fragen. Es bedarf eines Formats, in dem tabufrei ein Entfesselungspaket auf den Weg gebracht werden kann, das diesen Namen tatsächlich verdient. Ob dies am Ende des Tages eine Regierungskommission ist oder eine Arbeitsgruppe, in der Staatsministerium, Kommunalministerium, Finanzministerium und die kommunale Familie zusammenwirken, ist für uns zweitrangig. Entscheidend ist nur, dass in diesem Format, um es wissenschaftlich gepflegt auszudrücken, die Anzahl der Vetospieler gegen null tendiert.
Die Ressorts können dann immer noch in der zweiten Runde eingebunden werden, wenn es um die Details geht.
Meine Damen und Herren, die Landkreise aus der Überforderungsspirale zu befreien ist umso wichtiger, als wir – davon bin ich überzeugt – starke und verlässliche Landkreise dringend benötigen, um die Zukunftsherausforderungen zu bewältigen. Ich nenne hier nur die drei großen D: Dekarbonisierung, Digitalisierung und Demografie. Auf diesen drei Zukunftsfeldern müssen wir als Land Baden-Württemberg besser werden.
Denn fünf im ersten Halbjahr 2022 in Baden-Württemberg neu errichtete Windkraftanlagen sind eindeutig zu wenig. Um unser Ziel zu erreichen, müssten es täglich zwei sein. Dass wir bei der Digitalisierung und beim E-Government im internationalen Vergleich nicht wirklich gut dastehen, ist ebenfalls sattsam bekannt. Und auch der demografische Zangengriff aus schrumpfendem Arbeitskräfteangebot und alternder Gesellschaft lockert sich keineswegs, ganz im Gegenteil.
Die Landkreise wollen hier unbedingt Teil der Lösung sein. Denn wir sind nicht nur Krisenmanager. Wir verstehen uns auch als Zukunftsmacher. Kommunaler Klimaschutz und kommunale Verkehrswende, Breitband-Engagement und End-to-end-Verwaltungsdigitalisierung, präventive Sozialpolitik und sektorenübergreifende Gesundheitsversorgung – all dies haben wir auf der Agenda.
Man muss uns aber auch lassen. Und das ist gar nicht so schwer: Ein erster Anfang wäre schon gemacht, wenn man die vielen bürokratischen Förderprogramme durch Regelfinanzierungen ablösen würde. Dies gilt umso mehr, als viele Förderprogramme, weil sie ja eine bloße Anschubfinanzierung beinhalten, nicht nachhaltig sind, nicht dauerhaft wirken – weder in der Sache noch volkswirtschaftlich.
Lieber Herr Ministerpräsident, Sie sind u. a. mit folgender Einsicht aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt – ich darf Sie zitieren –: „Wir brauchen mehr Liebe zum Föderalismus.“ Dies deckt sich eins zu eins mit der Einschätzung, die der große französische Staatsdenker de Tocqueville – ebenfalls nach einer Reise in die Staaten – in seiner berühmten Schrift „Über die Demokratie in Amerika“ festgehalten hat.
Doch mindestens so sehr wie den Föderalismus lobt de Tocqueville in diesem epochemachenden Werk die untere Verwaltungsebene in Neuengland und die kommunale Selbstverwaltung dort.
Daher erlaube ich mir, lieber Herr Ministerpräsident, Ihre Aussage zu ergänzen: „Wir brauchen mehr Liebe zum Föderalismus und zur kommunalen Selbstverwaltung.“ Liebe freilich hat viel mit Vertrauen und Zutrauen zu tun. Und in der Tat: Mehr denn je brauchen die Landkreise, Städte und Gemeinden genügend Gestaltungsfreiheit und dafür umso weniger Regulierung. Es bedarf weder des eisernen noch des goldenen Zügels – und unter Bewährung braucht man die Gemeinde- und Landkreisverwaltungen erst recht nicht zu stellen.
Denn eines ist gewiss, meine Damen und Herren: Die multiplen Krisen unserer Tage wie auch die anspruchsvollen Transformationsprozesse, in denen wir uns befinden, werden sich nur mit gestaltungsstarken und leistungsfähigen Kommunen, mit gestaltungsstarken und leistungsfähigen Landkreisen meistern lassen.
Deswegen müssen wir in bewährter Partnerschaft dafür sorgen und uns dafür einsetzen, dass die Kernbotschaft dieser 41. Landkreisversammlung dauerhaft Bestand hat: „Landkreise – stark und verlässlich, auch in schweren Zeiten“.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Die 41. Landkreisversammlung, die am 24. Oktober 2021 in Fellbach stattfand, hat einstimmig den Landrat des Landkreises Tübingen, Joachim Walter, in seinem Amt als Präsidenten des Landkreistags Baden-Württemberg bestätigt.
Als Präsident ist der Tübinger Landrat Vorsitzender der Landkreisversammlung, der Landrätekonferenz und des Präsidiums und vertritt den Landkreistag Baden-Württemberg gegenüber dem Landtag und der Landesregierung in Angelegenheiten von grundsätzlicher verbandspolitischer Bedeutung. Seit 2014 ist er zudem Vizepräsident des Deutschen Landkreistags.