Nachdem die letzte Landkreisversammlung vor zwei Jahren in Villingen-Schwenningen coronabedingt noch im teilhybriden Format abgehalten werden musste, konnte der Präsident des baden-württembergischen Landkreistags, der Tübinger Landrat Joachim Walter, in diesem Jahr wieder rund 300 Gäste aus Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft zum öffentlichen Teil der Veranstaltung willkommen heißen. In der unmittelbar davor abgehaltenen nichtöffentlichen Mitgliederversammlung war Landrat Joachim Walter mit einstimmigem Ergebnis zum inzwischen dritten Mal als Präsident des Landkreistags Baden-Württemberg bestätigt worden. Er steht seit Juli 2013 an der Spitze der 35 baden-württembergischen Landkreise und amtiert zugleich als inzwischen dienstältester Vizepräsident des Deutschen Landkreistags, der als kommunaler Spitzenverband die Interessen der 294 deutschen Landkreise vertritt.
In seiner Grundsatzrede betonte Landkreistagspräsident Walter, dass die Landratsämter aufgrund kluger Reformen in der Vergangenheit eigentlich stark aufgestellt seien. Er erwähnte in diesem Zusammenhang neben der Verwaltungsreform von 1995 und vor allem der von 2005 auch die Kreisgebietsreform von 1973, die sich im kommenden Jahr zum fünfzigsten Mal jährt und im Verlauf des Jahres 2023 sowohl von den Landkreisen hier im Land wie auch vom Landkreistag durch verschiedenste Veranstaltungen und Aktivitäten gewürdigt werden wird. Nur weil die Landratsämter durch die verschiedenen Gebiets- und Funktionalreformen zu hochgradig leistungsfähigen Verwaltungseinheiten ausgeformt worden seien, hätten sie sich, so Joachim Walter, in den diversen Krisen der vergangenen Jahre – von der Finanz- über die Flüchtlings- bis hin zur Corona-Krise – als ebenso belastbare wie verlässliche Partner des Landes er- und beweisen können.
Umso ernster und alarmierender sei dann aber die Lage, wenn die an sich durchaus leistungsstarken Landkreisverwaltungen verstärkt Notsignale senden, weil sie zunehmend in eine Überforderungssituation abzugleiten drohen. Dies werde ganz aktuell bei der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine und aus anderen Teilen dieser unfriedlichen Welt spür- und erkennbar. Mehr noch aber seien strukturelle Fehlentwicklungen die Ursache für diese drohende Überforderung der Landratsämter, insbesondere die Überregulierung sowie der ständige Rückgriff auf die Landkreise als Ausfallbürgen, etwa wenn beim Impfen, bei der Krankenhausfinanzierung oder der schulischen Inklusion die Regelsysteme versagen. Es bestehe die akute Gefahr, dass die Leistungsfähigkeit der kommunalen Verwaltungsebene überdehnt werde.
Vor diesem Hintergrund appellierte Verbandspräsident Walter an Ministerpräsident Kretschmann, alles zu unternehmen, um die Landkreise bei der humanitär gebotenen Geflüchtetenaufnahme zu unterstützen. Insbesondere forderte er eine auskömmliche Refinanzierung der mit dieser Mammutaufgabe einhergehenden kommunalen Kosten. Andernfalls, so Walter, provoziere man in den Kreistagen und in den Gemeinderäten Debatten über die Flüchtlingskostenfinanzierung, also unheilvolle Diskussionen darüber, weshalb ein bestimmtes Bauprojekt, eine bestimmte soziale Maßnahme, eine bestimmte Vereinsförderung gerade wegen der finanziellen Belastung durch die Geflüchteten eingestellt werden müsse. Solche kommunalpolitischen Auseinandersetzungen tunlichst zu vermeiden, sei in der Vergangenheit stets die gemeinsame Leitschnur von Land und Kommunalen Landesverbänden bei ihren Finanzverhandlungen gewesen. An dieses Commitment müsse wieder angeknüpft werden.
Im Weiteren ging Landkreistagspräsident Walter intensiv auf die tieferliegenden, strukturellen Gründe für die auf breiter Front drohende Überforderung der Landkreise ein. Er beschränkte sich dabei aber nicht auf die bloße Analyse, sondern leitete daraus drei ganz konkrete Erwartungen an das Land, die Landesregierung und den Landtag von Baden-Württemberg ab.
Erstens forderte er vom Land eine ehrliche Debatte und vor allem schnelle Entscheidungen zu den politischen Prioritäten und Posterioritäten. Denn manches von dem, was vor der Zeitwende noch als zwingend erforderlich und unverzichtbar angesehen worden sei, lasse sich heute schlichtweg nicht mehr umsetzen. Walter stellte bei dieser Gelegenheit auch klar, dass die kommunale Seite es nicht nur loyal mittragen, sondern ausdrücklich unterstützen und in der Öffentlichkeit für Akzeptanz werben werde, wenn das Land im Zuge einer realistischen Neubewertung der aktuellen Finanzierungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten bestimmte Vorhaben bewusst zurückstelle.
Zweitens, so Walter weiter, müssten vom Land priorisierte Aufgaben, die von den Kommunen umgesetzt werden, auch auskömmlich finanziert werden. In diesem Kontext müsse auch das landesverfassungsrechtliche Konnexitätsprinzip, bei dem sich das Land eine Reihe von Schlupflöchern offengehalten habe, unbedingt nachgeschärft werden. Es müsse verfassungsrechtlich eindeutig geregelt werden, dass wesentliche Mehrbelastungen, die Kommunen aus ihnen übertragenen Aufgaben oder durch Änderungen der Kosten aus der Erledigung dieser Aufgaben erwachsen, vom Land vollständig auszugleichen sind.
Drittens warb Landkreistagspräsident Walter einmal mehr für eine konsequente und systematische Aufgaben- und Standardkritik. Für den hierfür erforderlichen grundsätzlichen Prozess bedürfe es eines Formats, in dem tabufrei ein veritables Entfesselungspaket auf den Weg gebracht werden könne.
Die Landkreise durch eine zupackende Politik des Ermöglichens aus der Überforderungsspirale zu befreien, sei umso wichtiger, als starke und verlässliche Landkreise dringend benötigt würden, um die Zukunftsherausforderungen zu bewältigen. Denn Themen wie kommunaler Klimaschutz und kommunale Verkehrswende, Breitbandinfrastruktur und End-To-End-Digitalisierung, präventive Sozialpolitik und sektorenübergreifende Gesundheitsversorgung – dies alles seien Zukunftsthemen, die die Landkreise auf ihrer Agenda hätten und aktiv mitgestalten wollten. Man müsse sie aber auch lassen.
Ministerpräsident Kretschmann ging in seiner Rede auf die von seinem Vorredner adressierte Thematik des Standard- und Bürokratieabbaus ein. Er machte deutlich, dass seiner Auffassung nach Deregulierung und Verfahrensbeschleunigung Herausforderungen seien, derer sich primär die Fachressorts widmen müssten. Er setzte damit einen anderen Akzent als Landkreistagspräsident Walter, der ausdrücklich davor gewarnt hatte, diese Themen allein den Fachressorts zu überlassen. Allerdings sicherte Ministerpräsident Kretschmann zu, sich dem Thema Bürokratieabbau ganz zentral widmen zu wollen. Dabei ließ er keinen Zweifel daran, dass es dafür auch eines Kulturwandels in der öffentlichen Verwaltung bedürfe. Er bezeichnete es als notwendig, „mentalitätsmäßig“ zu einer Politik des Ermöglichens zu kommen und nicht immer nur in Allem Hindernisse zu sehen.
Zum Schluss seiner Ausführungen bekundete Ministerpräsident Kretschmann nochmals seine große Wertschätzung für die kommunale Selbstverwaltung. Die Gemeindefreiheit sei für ihn integraler Bestandteil des Föderalismus. Bei ihm finde man im Übrigen auch immer offene Türen, wenn es darum gehe, Aufgaben der unmittelbaren Staatsverwaltung zu kommunalisieren. Die Kommunen seien für ihn Orte lebendiger Demokratie.
Der zweite, fachpolitisch geprägte Teil der Landkreisversammlung war dem Mega-Thema „Digitalisierung“ gewidmet. Zunächst hielt Martin Schallbruch, CEO der von 24 IT-Dienstleistern getragenen Genossenschaft govdigital, einen Impulsvortrag, in dem er insbesondere eine stärkere Arbeitsteilung und Cloud Computing als Lösungsansätze benannte, um bei der Digitalisierung der Verwaltung in Deutschland im Kontext von steigendem Fachkräftemangel und akuten Herausforderungen wie der Cybersicherheit voranzukommen.
In der sich anschließenden Talkrunde, die von der Journalistin Kara Ballarin moderiert wurde, diskutierte Schallbruch mit dem Stv. Ministerpräsidenten und Digitalisierungsminister Thomas Strobl, der Landrätin des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald Dorothea Störr-Ritter sowie dem Reutlinger Landrat Dr. Ulrich Fiedler über Digitalisierungsfortschritte und -hindernisse auf kommunaler Ebene. Thematisiert wurde beispielsweise der für die Kommunen im Land hochproblematische Stopp der Gigabitförderung durch die Bundesregierung. Aber auch die Herausforderungen der Verwaltungsdigitalisierung insbesondere im Kontext des Onlinezugangsgesetzes und der notwendigen End-To-End-Digitalisierung von Verwaltungsdienstleistungen wurden intensiv erörtert. Nicht ohne Grund hatten wir dieser Thematik in der letzten Ausgabe der Landkreisnachrichten breiten Raum eingeräumt.
In seinem Schlusswort machte der Esslinger Landrat Heinz Eininger als Vizepräsident des Landkreistags Baden-Württemberg deutlich, dass die Zeitenwende eine Zeit der Entscheidungen sein müsse. Nicht zu entscheiden, führe zu Verunsicherung. Die Landkreise stünden bereit für eine entschiedene Gangart – nicht nur als erprobte Krisen-, sondern auch als engagierte Change-Manager.
Ich hoffe, liebe Leserinnen und Leser, dass dieser geraffte Bericht Ihnen Lust gemacht hat, sich noch eingehender mit den Inhalten unserer 41. Landkreisversammlung zu beschäftigen. Wir haben die Reden und weiteren Programmpunkte in dieser Ausgabe der Landkreisnachrichten zum genaueren Nachlesen ausführlich dokumentiert.
Zugleich darf ich Ihnen ankündigen, dass dies die letzte Ausgabe der Landkreisnachrichten in ihrer tradierten Form ist. Pünktlich zum 50-jährigen Jubiläum der Kreisreform wird unsere Verbandszeitschrift eine Metamorphose durchlaufen. Soviel kann ich schon verraten: Wir wollen moderner, schneller und multimedialer werden. Lassen Sie sich überraschen.
Mir bleibt an dieser Stelle noch, mich zum Jahresende – auch im Namen des Präsidenten des Landkreistags Baden-Württemberg, Landrat Joachim Walter – bei den Landratsämtern, Kreiseinrichtungen sowie allen unseren Partnerinnen und Partnern in Staat und Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft für die auch in diesem herausfordernden Jahr 2022 erneut fruchtbare Zusammenarbeit und das gute Miteinander zu bedanken. Bleiben Sie dem Landkreistag auch im kommenden Jahr verbunden und gewogen.
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser der Landkreisnachrichten, wünsche ich allen Widrigkeiten und Sorgen zum Trotz eine beschauliche Adventszeit, ein frohes, gesegnetes Weihnachtsfest und alles Gute für ein friedvolleres, glückliches Jahr 2023.