Nahverkehrsplan und Wettbewerb

Nahverkehrspläne als Fundament wettbewerblicher Vergaben

Der Übergang von historisch gewachsenen, vielfach eigenwirtschaftlichen und teilweise kommunal bezuschussten Verkehrsangeboten in eine durch den Aufgabenträger Landkreis gesteuerte Angebotsentwicklung bedarf mancher Leitplanke. Das Instrument Nahverkehrsplan kann hier gute Dienste leisten.
Thomas Knöller · Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) · 15. Dezember 2023
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Stadt- und Landkreise als Aufgabenträger für Bus- und Straßenbahnverkehre sind per Landesgesetz seit 1998 verpflichtet, Nahverkehrspläne aufzustellen. In der Vergangenheit wurden diese gerne dazu genutzt, mittels einer Schwachstellenanalyse Verbesserungsansätze zu identifizieren und zu beschreiben oder gewünschte Angebotsmaßnahmen einzelner Kommunen zu dokumentieren. Deren Umsetzung erfolgte dann häufig in Abhängigkeit von der Kassenlage der kommunalen Ebene. Im Bereich der Landkreise Böblingen, Esslingen, Ludwigsburg und Rems-Murr-Kreis – allesamt Gesellschafter im Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) – geschah dies zudem unter dem Schirm einer regional organisierten Alteinnahmensicherung für die vorhandenen Verkehrsunternehmen. Mit dem Inkrafttreten der Verordnung 1370/2007 der Europäischen Union, die mit der Novelle des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) 2013 in nationales Recht umgesetzt wurde, war klar, dass diese Handhabung einer dringenden Anpassung bedurfte.

In einer Marktordnung, die die wettbewerbliche Vergabe von Betriebsleistung als Regelfall sieht, kommen dem Instrument Nahverkehrsplan im Wesentlichen folgenden Funktionen zu:

  • Beschreibung oder Definition – je nach rechtlicher Relevanz – der Rahmenbedingungen für die späteren Vergabeverfahren,
  • Beschreibung der angestrebten Angebotsentwicklung,
  • Einbindung der vorhandenen Verkehrsunternehmen,
  • Abgrenzung der Finanzierungsverantwortung des Aufgabenträgers Landkreis im Verhältnis zu seinen Kreiskommunen.

Bereits bei einer Fortschreibung ihrer Nahverkehrspläne in den Jahren 2008/2009 hatten die o.g. Landkreise darin Linienbündel und zugehörige Harmonisierungszeitpunkte definiert. Ebenso wurden grundlegende Hinweise zur Fahrzeug- und Haltestellenausstattung sowie zum Agieren der Verkehrsunternehmen im Verbundverkehr aufgenommen. Parallel dazu konnte mit den vorhandenen Verkehrsunternehmen die freiwillige Einhaltung der Harmonisierungszeitpunkte vereinbart werden. Damit war der Grundstein für spätere Vergabeverfahren gelegt, aber die oben beschriebenen Funktionen der Nahverkehrspläne noch nicht vollständig ermöglicht.

Im Vorfeld der anstehenden Neuvergaben der Betriebsleistungen ab 2016 wurden die Nahverkehrspläne in den Jahren 2014/2015 daher nochmals grundlegend überarbeitet. Im Lichte der perspektivisch entfallenden Alteinnahmensicherung konnten sich die Planwerke nicht mehr auf Verbesserungen des vorhandenen Angebots konzentrieren, sondern mussten zum Umgang mit dem Verkehrsangebot insgesamt eine Antwort geben. Nachdem die seit der Verbundintegration 1993 bestehende Alteinnahmensicherung wesentliche Teile des Verkehrsangebots über die Jahre konserviert hatte, war hier ein neuer, unabhängiger Ansatz zu finden.
 

Zielsetzung des Aufgabenträgers

Die Verbundgesellschaft, die im Auftrag der Landkreise die Nahverkehrspläne bearbeitet, entwickelte deshalb einen flächenhaft gültigen Ansatz, der Mindest-Bedienungshäufigkeiten in Form von Fahrtenpaaren aus einer Struktur- und einer Nachfragekomponente ableitet. Die Strukturkomponente besteht aus der zentralörtlichen Gliederung gemäß Landesentwicklungsplan und den Einwohnerzahlen von Stadtteilen bzw. Teilorten, für die Nachfragekomponente wird das Fahrgastaufkommen in den zwischen- oder auch innerörtlichen Bedienungskorridoren ausgewertet. Der im VVS vorhandene flächendeckende Nachfragedatenbestand war hier von großem Nutzen. Der Ansatz wurde unter Berücksichtigung des Status quo kalibriert und als sogenanntes Basisangebot in den Nahverkehrsplänen verankert. Grundgedanke dabei war, dass die Landkreise als Aufgabenträger den Fortbestand des Basisangebots garantieren und ein Angebotsniveau darüber hinaus der kommunalen Mitfinanzierung bedarf. Insbesondere die Nachfragekomponente ermöglichte es dabei, auch Verkehrsverbindungen außerhalb der zentralörtlichen Struktur zu sichern.

Als weitere umfangreiche Erweiterung bei der Fortschreibung 2014/2015 wurden die Linienbündel mit konkreten Liniensteckbriefen unterfüttert, die die Funktion der Linien, die Anschlussbindungen und die angestrebten Bedienungshäufigkeiten festlegen. Zwar wird hier grundsätzlich von Taktverkehren ausgegangen, eine Flexibilität bei den Rändern der Bedienungszeiträume kann jedoch auch eine Konzentration einzelner Fahrten auf die Hauptzeiten des Schüler- und Berufsverkehrs erlauben. Nachdem im Rahmen der Bearbeitung der Nahverkehrspläne nicht alle Linienbündel vollständig überplant werden können, enthalten die Liniensteckbriefe auch nicht abschließend bewertete Überlegungen zur Angebotsentwicklung, die sich aus Wünschen von Fahrgästen oder Kommunen oder auch konzeptionellen Überlegungen der Verbundgesellschaft speisen. Sie werden bewusst hier aufgenommen, um im Rahmen des Anhörungsverfahrens insbesondere Kommunen und Verkehrsunternehmen eine Einschätzung dazu zu ermöglichen.

Der potenziellen Rückkoppelung mit den Verkehrsunternehmen dient auch die Aufnahme zentraler Standards zur Angebotserstellung in die Nahverkehrspläne. Zwar sind bei Vergabeverfahren nur die der Vorab- bzw. der Vergabebekanntmachung beigefügten Unterlagen rechtlich bindend, eine gewisse Redundanz wird hier aber im Sinne des partnerschaftlichen Umgangs mit den vorhandenen Verkehrsunternehmen in Kauf genommen.

Bei der Verabschiedung der Nahverkehrspläne in den Kreisgremien führte insbesondere der Ansatz des Basisangebots zu Diskussionen, weil ein flächendeckend einheitlicher Angebotsmaßstab zwangsläufig auch potenzielle Überangebote sichtbar macht. Diese wären entweder zurückgenommen worden oder hätten einer kommunalen Mitfinanzierung bedurft. Ein finanzielles Engagement für den Erhalt des Status quo erschien für viele Kommunen aber kaum vorstellbar. In dreien der vier beteiligten Landkreise wurde deshalb zusätzlich zum Basisangebot eine Status quo-Garantie auf dem Angebotsniveau 2015 beschlossen. Die Auswirkungen dieser Abweichung vom ursprünglichen Ansatz haben sich inzwischen aber deutlich abgeschwächt, da das Basisangebot seit 2014/2015 eine mehrfache Ausweitung erfahren hat. Bereits der 2014 vom Landesverkehrsministerium moderierte ÖPNV-Pakt für die Region Stuttgart, in dem sich die Landkreise Böblingen, Esslingen, Ludwigsburg und Rems-Murr-Kreis zu einer Aufwertung wichtiger S-Bahn-Zubringerbuslinien verpflichtet haben, führte hier zu punktuellen Taktverdichtungen.

Die Nahverkehrspläne der Jahre 2014/2015 waren gleichwohl eine gute Grundlage für die erstmaligen Vergabeverfahren für 50 Linienbündel, die bis 2019 von den Landkreisen im VVS durchgeführt wurden. Lediglich der Zuschnitt einzelner Linienbündel wurde im Nachgang mittels Teilfortschreibung noch angepasst. In etlichen Teilräumen hat sich durch das Basisangebot eine spürbare Angebotsverbesserung ergeben und damit zu einer signifikanten Harmonisierung des Angebotsniveaus im Verbundgebiet beigetragen.
 

Organische Weiterentwicklung

Mit einer Staffelung der Vertragslaufzeiten war beabsichtigt, die zweite Vergaberunde zeitlich etwas zu entzerren, so dass bereits ab 2021 wieder Vorabbekanntmachungen anstanden. Die erneute Fortschreibung der Nahverkehrspläne in den Jahren 2020/2021, die primär in deren Anpassung an die Vorgaben zur Barrierefreiheit im PBefG begründet war, wurde daher auch zur Vorbereitung dieser Vergabeverfahren genutzt. Neben einer geringfügigen Anpassung der Linienbündel und der Aktualisierung der Harmonisierungszeitpunkte verständigten sich die beteiligten Landkreise, zu denen seit 2021 auch der Landkreis Göppingen gehört, auf eine weitere moderate Erhöhung des Basisangebots. Im Fokus standen dabei nochmals die wichtigen S-Bahn-Zubringerbusse sowie die Mindestbedienung bei Busverkehren, die der niedrigsten Stufe des Basisangebots zugeordnet sind. Überarbeitet wurden auch die Regeln, nach denen in Zeiten geringer Nachfrage das Basisangebot durch bedarfsgesteuerte Verkehre sichergestellt werden kann. Während tendenziell – auch vor dem Hintergrund einer abnehmenden Zahl von potenziellen Betreibern – diese Angebotsform eher eingeschränkt werden soll, wurde im Nahverkehrsplan des Landkreises Göppingen erstmals versucht, auch On Demand-Verkehre neuerer Prägung zur Erfüllung des Basisangebots zuzulassen. Die Systematik für die Berechnung des Basisangebots im Busverkehr erfuhr eine entsprechende Erweiterung, anstelle von Fahrtenpaaren wurden nun aber Mindest-Betriebsstunden abgeleitet. Das zum kommenden Fahrplanwechsel im Dezember 2023 im Landkreis Göppingen startende großräumige Pilotprojekt wird sicher mit darüber entscheiden, inwiefern Kommunen, mit denen im Vorfeld der Vergabeverfahren eine Abstimmung erfolgt, künftig die Flexibilität der fahrplanunabhängigen Shuttles höher bewerten als Buslinien mit geringer Taktdichte.

Auch die jüngst fortgeschriebenen Nahverkehrspläne sind von den zuständigen Kreisgremien verabschiedet worden. Die zunehmend schwierige Finanzlage in den Stadt- und Landkreisen und die in der Region Stuttgart wenig stabile Betriebsabwicklung im S-Bahn- und Regionalzugverkehr haben allerdings dazu geführt, dass sich die Landkreise darauf verständigt haben, die jüngst vereinbarten Angebotsverbesserungen im Busverkehr frühestens mit der Inbetriebnahme des umgebauten Stuttgarter Hauptbahnhofs umzusetzen. Zuverlässig eingehaltene Fahrpläne im Schienenpersonennahverkehr sind für den Erfolg verdichteter Zubringerbuslinien einfach unverzichtbar.
 

Themen für künftige Fortschreibungen der Nahverkehrspläne

Die ÖPNV-Aufgabenträger im VVS teilen die Einschätzung der Fachwelt, dass fahrplanunabhängige On Demand-Angebote sich künftig als eine dauerhafte Komponente des ÖPNV-Angebots etablieren werden. Neben dem Landkreis Göppingen haben deshalb auch die anderen Landkreise im VVS entsprechende Pilotprojekte umgesetzt oder planen deren Umsetzung spätestens im Jahr 2024. Angesichts der erwarteten zukünftigen Bedeutung wurde dabei mit dem Markennamen „VVS-Rider“ eine kreisübergreifende Produktbezeichnung geschaffen, die den Fahrgästen einheitliche Nutzungsbedingungen und einen standardisierten Buchungsprozess garantiert. Die Buchungsplattform wird dabei von der Verbundgesellschaft betreut, die hier ihrerseits mit der Stuttgarter Straßenbahnen AG kooperiert, welche mit ihrem Angebot SSB Flex bereits über mehrjährige Erfahrungen mit Pooling-Angeboten verfügt. Im Gegensatz zur Landeshauptstadt Stuttgart soll die On Demand-Nutzung in den Verbundlandkreisen wegen des Zusammenspiels mit dem Linienbusverkehr aber generell zuschlagfrei zum ÖPNV-Tarif möglich sein. Die künftigen Nahverkehrspläne werden deshalb dieses Zusammenspiel für alle Teilnetze beschreiben müssen und dabei mutmaßlich auch die bisher definierten Einsatzmöglichkeiten klassischer Ruftaxi-Verkehre ablösen.

Verstärkt werden sich die Nahverkehrspläne in der Zukunft auch mit den in den Linienbündeln zu fordernden Antriebstechniken auseinandersetzen müssen. Mangels landesgesetzlicher Vorgaben wird bei den aktuellen Vergabeverfahren hier unter Beachtung der Vorgaben des Gesetzes über die Beschaffung sauberer Straßenfahrzeuge (SaubFahrzeugBeschG) noch sehr „auf Sicht“ gefahren, so dass sich die zu favorisierenden Antriebsformen teilweise erst durch die Verfahren ergeben werden. Dabei entsteht – durch kommunale oder unternehmerische Initiative – eine Lade- oder Betankungsinfrastruktur, die es schon aus fördertechnischen Gründen zu schützen gilt. Die Nahverkehrspläne werden bei der nächsten Fortschreibung hierauf aufzusetzen haben.
 

Fazit

Die Erfahrungen des vergangenen Jahrzehnts im VVS-Verbundgebiet machen deutlich, dass die Nahverkehrspläne eine wichtige Grundlage in der Wettbewerbswelt des ÖPNV darstellen. Neben der rein rechtlichen Bedeutung in Bezug auf das PBefG sind sie insbesondere für die kreisinterne Abstimmung äußerst hilfreich. Die in den Planwerken festgelegten Bedienungsstrukturen und -häufigkeiten sind ein belastbarer Ausgangspunkt für die Abstimmung mit betroffenen Kommunen im Vorfeld der Einleitung von Vergabeverfahren für Linienbündel. Im Bereich des VVS kommt hinzu, dass damit auch ein verbundweiter Mindeststandard abgesichert wird. Idealerweise sollte ein vom Aufgabenträger garantiertes Angebotsniveau aber von Regelungen flankiert werden, wie mit Zubestellwünschen von Städten und Gemeinden umzugehen ist . Diese sollten auch die Frage umfassen, ob und in welchem Umfang ggf. eine weitere finanzielle Beteiligung des Aufgabenträgers erflogt.

Thomas Knöller ist Abteilungsleiter Planung beim Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS)
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