Wettbewerb und Mittelstand

Schaffung mittelstandsfreundlicher Marktbedingungen durch die Landkreise

Der ÖPNV in Baden-Württemberg ist geprägt durch eine Vielzahl von kleinen und mittelständischen Unternehmen. Die Verbundlandkreise Böblingen, Esslingen, Göppingen, Ludwigsburg und der Rems-Murr-Kreis haben sich den Erhalt dieser Unternehmensstruktur und der bei den Unternehmen vorhandenen Expertise zum Ziel gesetzt.
Daniel Rebmann · Verbundlandkreise des Verkehrs- und Tarifverbunds Stuttgart (VVS) · 15. Dezember 2023
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Ausgangssituation

Die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 regelt die Vergabe und Finanzierung von im öffentlichen Interesse liegenden Personenverkehrsleistungen, die durch die Verkehrsunternehmen nicht eigenwirtschaftlich erbracht werden können. Sie trat am 3. Dezember 2009 in Kraft und gilt für den gesamten öffentlichen Personenverkehr auf der Schiene und auf der Straße.

Die Verordnung legt fest, dass öffentliche Dienstleistungsaufträge für den öffentlichen Personenverkehr in der Regel durch ein Vergabeverfahren vergeben werden müssen. Das Vergabeverfahren muss dabei den Grundsätzen der Transparenz, Nichtdiskriminierung, Gleichbehandlung und Proportionalität entsprechen. Darüber hinaus besteht in bestimmten Fällen auch die Möglichkeit Verkehrsleistungen im Wege von Direktvergaben, d.h. ohne Durchführung eines vorherigen wettbewerblichen Vergabeverfahrens zu beauftragen.

Ausgangspunkt für alle Vergabeverfahren ist der Nahverkehrsplan (NVP) des zuständigen Aufgabenträgers sowie die Vorabbekanntmachung (VAB) im EU-Amtsblatt. Frühestens 27 Monate vor Betriebsbeginn muss EU-weit über die Absicht der Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags informiert werden. Bleibt ein eigenwirtschaftlicher Antrag aus, schließt sich ein wettbewerbliches Verfahren an.
 

Erfahrungen aus der ersten Vergaberunde (2016 – 2023)

In den Alt-Verbundlandkreisen wurden im Rahmen der ersten Vergaberunde erstmals alle Verkehrsleistungen im Rahmen von wettbewerblichen Vergabeverfahren ausgeschrieben, im Landkreis Göppingen stehen diese in den kommenden Jahren an. Die einzelnen Linien wurden im Regelfall zu Linienbündeln zusammengefasst und im Rahmen der Vergabeverfahren teilweise gesamt, teilweise in Losen vergeben. Schon die Ausschreibungsunterlagen der ersten Vergaberunde wiesen im Verbundraum Stuttgart viele Merkmale auf, die im Jahr 2020 zwischen dem Land, den Kommunalen Landesverbänden und dem Verband Baden-Württembergischer Omnibusunternehmen e.V. als Branchenverband im sog. „Bündnis für den Mittelstand“ verankert wurden.

Insgesamt wurden über 56 Verfahren per VAB bekannt gegeben, wobei 22 Vergabeverfahren aufgrund von eigenwirtschaftlichen Anträgen der Verkehrsunternehmen nicht durchgeführt wurden. Von den übrigen Vergaben wurden 16 Linienbündel im Rahmen von Direktvergaben (Nettoverkehrsvertrag) und 18 Linienbündel im Rahmen von offenen Verfahren (Bruttoverkehrsvertrag) vergeben.

Die Linienbündel verteilten sich wie folgt auf die Verbundlandkreise:

  • Böblingen: 13
  • Esslingen: 11
  • Ludwigsburg: 13
  • Rems-Murr-Kreis: 13
  • Göppingen (VVS-Vollmitglied seit 01.01.2021): 10

Durch die Corona-Pandemie ab 2020 und die Energiekrise 2022, ausgelöst durch den Angriffskrieg auf die Ukraine, wurden umfangreiche Stützungsmaßnahmen zum Erhalt der ausreichenden Verkehrsbedienung notwendig. Dabei sind die Verbundlandkreise bereits frühzeitig auf die Verkehrsunternehmen zugegangen und haben ihre Unterstützung ankündigt, auch und insbesondere für die Fälle, in denen Bund und Länder nicht oder nicht rechtzeitig Maßnahmen zur Stabilisierung und zur Kompensation umsetzen würden.

In diesem Zusammenhang wurden auch die Dynamisierungsregelungen der bereits abgeschlossenen Verkehrsverträge angepasst und die Anwendung des BW-Index ÖPNV Straße, der ebenfalls Bestandteil des Bündnisses für den Mittelstand ist, vereinbart. Dadurch war es möglich, kurzfristig auf die teilweise extremen Kostensteigerungen zu reagieren.

Neben dieser Anpassung haben die Verbundlandkreise die Liquidität der Verkehrsunternehmen durch vorgezogene Abschlagszahlungen (insb. der Ausgleichsmittel für die rabattierte Beförderung im Ausbildungsverkehr) sichergestellt und Gremienbeschlüsse zur Aufspannung eines sog. Kreisrettungsschirms sowie zum Ausgleich der gestiegenen Energiekosten eingeholt. Somit konnten nicht nur die Unternehmen mit Bruttoverträgen, sondern auch Verkehrsunternehmen mit Erlösrisiko (also eigenwirtschaftliche Verkehre und Verkehre mit Nettoverkehrsvertrag) gestützt werden.

Zukünftig werden folgende vier Wertungskriterien bei der Vergabe von Busverkehren angewendet:

  • 70 % Preis
  • 30 % Qualität, darunter: 5 % Verkehrliche Mehrleistungen, 10 % Eigenerbringungsquote, 15 % Fahrzeugumwelteigenschaften

Zu den neuen Wertungskriterien im Detail

Wertungskriterium 1: Angebotspreis (inkl. Zubestellszenario)

In diesem Kriterium können maximal 70 von 100 Punkten der Gesamtbewertung erreicht werden. Ein Angebot, das 30 % oder mehr über dem günstigsten Angebotspreis liegt, erhält 0 Punkte. Innerhalb dieser Bandbreite werden die verschiedenen Angebotspreise interpoliert, wodurch sich eine transparente Wertungsmatrix ergibt.

Zudem wurde der Angebotspreis um ein Zubestellszenario ergänzt. Dabei wird unterstellt, dass sich während der Vertragslaufzeit Zubestellungen in einem festgelegten Volumen (= Szenario) ergeben. Für diese fiktive Zubestellung, die in Form von Stunden, Kilometern und Fahrzeugen genau beschrieben ist, muss das Busunternehmen separate Preise angeben. Dabei muss es sich nicht um die Preise handeln, die dem Hauptangebot zugrunde liegen.

Das Korrektiv, kostendeckende, aber keine überhöhten Kostensätze für Zubestellungen anzugeben, liegt darin, dass das Zubestellszenario in die Wertung des Angebotspreises einfließt.

Wertungskriterium 2: Verkehrliche Mehrleistungen

Die Busunternehmen können künftig auch im Vergabeverfahren verkehrliche Mehrleistungen wie Taktverdichtungen oder Verlängerungen der Betriebszeit anbieten. Bislang war das nur im Genehmigungswettbewerb bei eigenwirtschaftlichen Verkehren möglich.

Damit bietet sich insbesondere den eingesessenen Unternehmen die Möglichkeit, aus ihrer Kenntnis des Verkehrsraums sinnvolle und kreative verkehrliche Mehrleistungen im Interesse der Fahrgäste anzubieten.

Hier befinden sich die Verbundlandkreise aktuell in der finalen Abstimmung des Bewertungsrasters. Ziel ist es, die angebotenen Mehrleistungen in einem festgelegten, angemessenen Verhältnis zur jeweiligen Grundleistung mit einer maximalen Punktzahl von bis zu 5 Punkten zu bewerten.

Wertungskriterium 3: Eigenerbringungsquote

Beim Einsatz von Subunternehmen zur Erbringung der Verkehrsleistung entstehen im Abstimmungsprozess weitere Schnittstellen. Oft sind die Ansprechpartner der Auftragnehmer nicht direkt auskunftsfähig, weil sie sich erst mit ihren Subunternehmen abstimmen müssen. Auch sind Qualitätsmaßstäbe beim Einsatz von Subunternehmen schwieriger durchzusetzen.

Eine höhere Eigenerbringungsquote wird daher künftig mit mehr Punkten belohnt. Die Einhaltung der vorgegebenen Minimalquote von 50 % fließt in die Wertung mit 0 Punkten ein. Die maximale Punktzahl von 10 Punkten erhält derjenige, der eine Eigenerbringungsquote von 75 % zusichert.

Wertungskriterium 4: Fahrzeugumwelteigenschaften

Wer über die in den Ausschreibungsunterlagen vorgegeben Quoten emissionsfreier oder emissionsarmer (sauberer) Fahrzeuge hinaus weitere entsprechende Fahrzeuge einsetzt, kann in der Angebotswertung maximal 15 Punkte erzielen.

Sind sämtliche für die Bewirtschaftung des Linienbündels angebotenen Fahrzeuge „emissionsfrei“ wird das Angebot mit der maximalen Punktzahl von 15 Punkten bewertet. Dazwischen wird interpoliert. „Saubere Fahrzeuge“ werden mit der halben Punktzahl eines „emissionsfreien“ Fahrzeugs gewertet.

Neben diesen Wertungskriterien haben die Verbundlandkreise auch noch weitere mögliche Wertungskriterien geprüft, wie beispielsweise die Nähe des Betriebssitzes zum Verkehrsraum. Hierbei stellten sich jedoch verschiedene rechtliche Hürden, welche dem Ziel der Verbundlandkreise, rechtssichere Vergabeunterlagen zu schaffen, entgegenstanden.
 

Neuerungen für die zweite Vergaberunde (ab 2023)

Nach Abschluss der ersten Vergaberunde haben sich die Verbundlandkreise unter Beteiligung des VVS und der Fachberater an eine Evaluation und Überarbeitung der bisherigen Vergabeunterlagen gemacht. Dabei sind die Erfahrungen aus den eigenen Vergabeverfahren, aber auch Erkenntnisse aus den Vergabeverfahren anderer Verkehrsverbünde eingeflossen.

Bewährte Regelungen aus der ersten Vergaberunde wurden beibehalten. Dazu zählt die Aufteilung der Linienbündel in Lose oder auch die Entzerrung der Vergabezeitpunkte der Linienbündel. Beides dient dazu, die Chancen kleiner und mittelständischer Unternehmen in den wettbewerblichen Verfahren zu erhalten.

Auch das Instrument der Direktvergabe, dass sich in der ersten Vergaberunde bewährt hat, soll weiter zur Anwendung kommen. Man darf allerdings nicht verschweigen, dass die Übernahme eines Erlösrisikos durch die Unternehmen – was eine unabdingbare Voraussetzung für die Direktvergabe darstellt – unter den aktuellen Rahmenbedingungen problematisch ist. Die Unklarheiten, z.B. beim Deutschlandticket oder der Preisentwicklung im Energiesektor, sowie der sehr volatilen Entwicklung auf dem Fahrzeugmarkt mit alternativen Antriebsarten, machen verlässliche Kalkulationen sehr schwierig.

Neu eingeflossen ist das Saubere-Fahrzeuge-Beschaffungs-Gesetz (SaubFahrzeugBeschG) zur Umsetzung der europäischen Clean-Vehicles-Directive (CVD). Damit werden erstmals verbindliche Mindestziele für die Beschaffung emissionsarmer und -freier Busse im ÖPNV vorgegeben. Die Verbundlandkreise haben sich zunächst dafür entschieden, dass in den anstehenden Verfahren die gesetzlichen Quoten weitestgehend technologieoffen vorgegeben werden. Nur wo die entsprechende Infrastruktur bereits vom Landkreis bereitgestellt wird, wie in einem Pilotprojekt einer Wasserstofftankstelle im Rems-Murr-Kreis, können, ohne den Mittelstand zu stark zu belasten, Vorgaben zur Antriebsart gemacht werden.

Die Beschaffung der emissionsfreien Fahrzeuge stellt die Unternehmen vor große Herausforderungen. Trotz des Hochlaufens der Produktion entsprechender Fahrzeuge bleiben die Preise stabil auf hohem Niveau. Gleichzeitig stellt sich die Förderkulisse in Baden-Württemberg so dar, dass bei der Kalkulation von Angeboten nicht bekannt ist, ob bei der tatsächlichen Beschaffung der Fahrzeuge Fördermittel in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen. Für die kleinen und mittleren Unternehmen stellt dies einen gravierenden Nachteil im Vergleich zu Unternehmen dar, die z.B. größeren Unternehmensverbünden angehören.

Die Verbundlandkreise haben sich daher verständigt, dass alle Angebote so kalkuliert werden, wie wenn es keine Fördermittel geben würde. Gleichzeitig werden die Unternehmen vertraglich verpflichtet, alle Fördermöglichkeiten auszuschöpfen und die entsprechenden Anträge zu stellen. Bewilligte Fördermittel fließen dann den Landkreisen zu. Auch in dieser Maßnahme sehen wir eine deutliche Stützung des Mittelstands.

Die Vertragsanpassungen, welche während der Energiekrise vorgenommen wurden (insb. die Anpassung der Dynamisierung auf den Baden-Württemberg Index sowie die Möglichkeit unterjährig die Dynamisierung anzupassen) wurden ebenfalls in die neuen Vertragsunterlagen aufgenommen.

Eine hohe Qualität ist neben einem guten Verkehrsangebot ein wichtiger Baustein für die Stärkung des ÖPNV als echte, nachhaltige Alternative zum Individualverkehr. Die Verbundlandkreise haben daher ein großes Augenmerk darauf gelegt, die Qualität der Verkehre im Rahmen der Vergabeverfahren stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Dazu wurden neue Wertungskriterien aufgenommen, während die bisherigen Vergaben nur den Preis als alleiniges Wertungskriterium enthielten.

Die zusätzlichen Wertungskriterien wurden dabei so gewählt, dass bei ähnlich hohen Angebotspreisen die Qualität ausschlaggebend sein kann, ohne den Preis als Hauptkriterium zu entwerten.


Zusammenfassung und Fazit

Die Vergabe von ÖPNV-Verkehrsleistungen kann zu einer wirtschaftlicheren Leistungserbringung beitragen. Um allerdings keine Einbußen in der Qualität hinnehmen zu müssen, ist es notwendig sich von einem reinen Preiswettbewerb zu lösen. Dieser ist insbesondere für die kleinen und mittelständischen Unternehmen nachteilig und kann dazu führen, dass diese Unternehmen aus dem Markt ausscheiden.

Die Verbundlandkreise im VVS haben sich daher zum Ziel gesetzt, die Vergaben im ÖPNV mittelstandsfreundlich zu gestalten, um auch weiterhin das Knowhow dieser Unternehmen nutzen zu können und qualitativ hochwertige Verkehrsleistungen im gesamten VVS-Verkehrsgebiet anbieten zu können.

Hierzu haben die Verbundlandkreise eine Evaluation der ersten Vergaberunde durchgeführt. Die neuen Vergabeunterlagen sind klarer und präziser formuliert. Neue gesetzliche Anforderungen, wie der zwingende Einsatz von Fahrzeugen mit sauberem und emissionsfreiem Antrieb, wurden in die Unterlagen integriert. Darüber hinaus wurden Anpassungen an bereits vorhandenen Regelungen wie bspw. der Dynamisierung vorgenommen. Die bisherige Dynamisierung nach bundesweiten Indizes wurde durch den Baden-Württemberg Index ÖPNV Straße (BW-Index ÖPNV Straße) ersetzt.

Eine wesentliche Änderung ist, dass bei den Vergabeverfahren zukünftig neben dem Preis die Qualität eine höhere Beachtung findet. Daher wurde das Wertungskriterium Angebotspreis um drei neue Qualitätskriterien ergänzt. Bei ähnlichen Angebotspreisen soll die Qualität zukünftig den letzten Ausschlag geben, welches Verkehrsunternehmen den Zuschlag erhält.

Diese Maßnahmen der Verbundlandkreise sollen in Summe dazu beitragen, in einem rechtlich sicheren Rahmen mittelstandsfreundlichere Marktbedingungen zu schaffen.

Daniel Rebmann ist Leiter der Nahverkehrsplanung in der Stabsstelle Nachhaltige Mobilität im Landratsamt Böblingen
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