Die leise Not der jungen Generation

Kreisjugendamt Schwarzwald-Baar-Kreis – Raum für Neues im OpenSpace

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Hilfebedarf ist spürbar angewachsen. Gleichzeitig ist es um die Versorgungslage immer schlechter bestellt. Auch die öffentliche Jugendhilfe im Schwarzwald-Baar-Kreis ist alarmiert: Die Fallzahlen sind stark gestiegen, der Betreuungsbedarf ist bei gleichzeitig fehlenden Plätzen und mangelndem Personal hoch.
Jürgen Stach · Schwarzwald-Baar-Kreis · 05. Juli 2024
Mitarbeiter des Kreisjugendamtes
Mitarbeiter des Kreisjugendamtes
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Plädoyer

Eine zentrale Forderung des Sozialdezernats im Schwarzwald-Baar-Kreis ist, dass alle Beteiligten - insbesondere öffentliche sowie freie Träger - dringend an einem Strang ziehen müssen. Nur so ist es möglich, Lösungen zum Wohle dieser Gesellschaftsgruppe zu erreichen.

Enorme Fallzahlsteigerungen im Kinderschutz. Zunahme psychiatrischer und therapeutischer Bedarfe von Schülern. Steigende Bedarfe durch psychische Belastungen schon im Kleinkindalter. Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten. Anstieg von vollstationären Unterbringungsbedarfen. Steigende Bedarfe im Migrationsbereich, gleichzeitig fehlende Integrationsfachkräfte. Steigende Anforderungen und Belastungen des Fachpersonals in der Jugendhilfe. Die Liste der Warnsignale innerhalb der Jugendhilfe ließe sich sogar noch verlängern. In den meisten deutschen Kommunen dürfte die Situation ähnlich alarmierend sein, wie bei uns im Landkreis.
 

Besorgniserregend

Wir verzeichnen eine stetige Fallzahlsteigerung im Kinderschutz, gleichzeitig können durch mangelnde Hilfeangebote Kindeswohlgefährdungen kaum noch abgewendet werden. Die Situation ist besorgniserregend. Ein spürbar gestiegener Anteil innerhalb der jungen Generation leidet unter psychosozialen Problemen. Das kann sich in Erkrankungen wie Depressionen, in Angst-, Entwicklungs- oder Bindungsstörungen äußern. Sie befinden sich in seelischer Not und brauchen dringend unsere Hilfe und Unterstützung. Nicht wenige sind auch innerhalb ihrer Familie gefährdet. Hinzu kommen unzureichende Angebote in vorschulischen, schulischen und in jugendhilferechtlichen Systemen. Klassische Angebote wie präventive Sozialarbeit oder erzieherische Hilfen sind nicht mehr ausreichend, geschweige denn zeitnah möglich. Kurzfristige Hilfeangebote durch freie Träger sind, anders als früher, wegen des allgemeinen Fachkräftemangels, immer schwerer - wenn überhaupt - zu bekommen. Freie Träger können sich vor Anfragen kaum noch retten, die Einrichtungen platzen buchstäblich aus allen Nähten. Gleichzeitig fehlt qualifiziertes Personal und die vorhandenen Personalkontingente haben längst die Grenzen der Belastbarkeit erreicht. Und bei alledem sei die ebenfalls besorgniserregende Kostenentwicklung nur am Rande erwähnt.
 

Drohende Überlastungssituation

Wir als öffentlicher Träger sind alarmiert. Es fehlt an Plätzen zur Unterbringung und Betreuung, an Fachpersonal, an Mitteln. Denn eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen erhält derzeit nur noch eingeschränkt adäquate Hilfen. In nicht wenigen Fällen dürfte sogar ein weiterer Ausbau erforderlich sein. Exakte Zahlen sind allerdings schwer zu ermitteln. Aber die festzustellenden Tendenzen und die alltäglichen Erfahrungen fast aller in der Jugendhilfe tätigen Personen und Institutionen sprechen eine überdeutliche Sprache. Die drohende Überlastungssituation ist keine ängstliche oder pessimistische Schwarzmalerei, sondern real und mancherorts bereits eine Tatsache. Nicht zuletzt eine steigende Zahl von Erwachsenen und damit die Familien selbst sind überlastet. Die Konsequenzen durch die Belastungen, denen die Eltern ausgesetzt sind, kommen bei den Jüngeren schonungslos an und wirken sich auf deren Gesundheit und Entwicklung aus: Existenzängste, Migration und Flucht, psychische Erkrankungen, Anstieg von Suchtmittelmissbrauch und häuslicher Gewalt. Die Corona-Lockdowns spielten dabei offenbar eine große Rolle. Der eingeschränkte soziale Kontakt und die gesellschaftlichen Ängste während der Pandemie brachten in der jüngeren Generation das ohnehin schon randvolle Fass an Stressoren zum Überlaufen.
 

Zusammenhalt, neue Ideen und Wege sind Gebot der Stunde

In der jetzigen Situation ist mehr denn je Zusammenhalt zwischen allen Trägern geboten. Um das sich immer schneller drehende Karussell aus Belastungen und sich daraus ergebenden Fallzahlen in der Kinder- und Jugendhilfe zu durchbrechen, müssen gemeinsame Lösungen her. Gemeinsame! Es muss an einem Strang gezogen werden, um die Hilfs- und Unterstützungsangebote schnellstmöglich und deutlich aufzustocken, bzw. mit veränderten Standards und Strukturen zu erbringen.

Wie jede Krise bietet auch diese Chancen. Nämlich zu Umstrukturierungen, nachhaltigen Veränderungen und Verbesserungen der Abläufe - und damit zu einer verbesserten Versorgung der Kinder und Jugendlichen. Bereits im Jahr 2022 hat unser Kreisjugendamt in enger Abstimmung mit unseren kommunalpolitischen Gremien eine Gesamtstrategie aufgestellt. Diese Strategie wird zusammen mit allen freien Trägern in großer Offenheit und Transparenz ständig weiterentwickelt. Einzelne Ansatzpunkte, die bereits in Umsetzung sind, werden nachfolgend kurz benannt, ohne zu sehr ins Detail zu gehen.
 

Raum für Neues

Wie kann es gelingen, trotz hoher Arbeitsbelastungen altgewohnte und bewährte Hilfeformen kritisch zu hinterfragen und neue Ideen zu entwickeln? Klar ist, es braucht u.a. gute Kommunikationsstrukturen, Vertrauen und (Frei-)Räume.

Wer die Büro-Räume unseres Jugendamtes besucht oder hier arbeitet, trifft auf beste Bedingungen. In zentraler Lage wurde ein Bestandsgebäude kernsaniert und nach dreijähriger Bauzeit im Sommer 2022 durch das Jugendamt und das Kreisarchiv bezogen. Ideengeber und teils auch als „Treiber“ für den Erwerb und die Sanierung des Gebäudes mit zirka 4.000 Quadratmetern war Landrat Sven Hinterseh. Insgesamt investierte der Landkreis 11,8 Mio. Euro. Diese neuen Räume eröffneten die Chance für eine neue Arbeitsweise im Kreisjugendamt. Mit großer Unterstützung durch den Kreistag wurden ausreichend Mittel bereitgestellt, um mit externen Beratungsunternehmen in einem partizipativen Prozess mit den Mitarbeitenden des Kreisjugendamtes neue Arbeitsabläufe, Organisationsstrukturen und eine moderne Bürolandschaft in einem sog. OpenSpace-Format zu schaffen.

Über diesen sehr arbeitsintensiven Gestaltungsprozess verfügt das Kreisjugendamt nun über optimale Arbeitsbedingungen mit vielfältigen neuen Gestaltungsmöglichkeiten.
 

OpenSpace

Im Juni 2022 erfolgte der Umzug des Kreisjugendamtes in das neue Gebäude und damit in eine OpenSpace-Arbeitsstruktur mit angepassten Ablauforganisationen und gleichzeitiger Digitalisierung. Wir sind damit in den neuen Räumlichkeiten organisatorisch effizienter, zukunftssicher und attraktiv aufgestellt.

Verwirklicht werden dabei kurze Wege über das OpenSpace-Konzept mit DeskSharing, Homeoffice, mobilen Arbeitsmöglichkeiten und modernster digitaler Ausstattung. Schon jetzt kann festgehalten werden, dass die Arbeitseffizienz gesteigert wurde und weitere Ziele wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Fachkräfteakquise und Einbindung neuer Mitarbeitenden besser erreicht werden.
 

Weiterentwicklung der Gesamtstrategie

Doch nicht nur die Räume und die Arbeitsweise bedurften einer Neuausrichtung. Auch die Gesamtstrategie, beschlossen durch den Kreistag, musste aufgrund der aktuellen Entwicklungen neu angepasst werden. Bereits seit 2013 gelten für die Jugendhilfe im Schwarzwald-Baar-Kreis:

Politische Zielsetzungen:

  • Bildung und gelingendes Aufwachsen für Kinder im Schwarzwald-Baar-Kreis
  • Vermeiden von schwerwiegenden Kindswohlgefährdungen
  • Bürgernahe und familienfreundliche Leistungserbringung
  • Wirtschaftliche Leistungserbringung

Strategische Zielsetzungen:

  • Stärkere Sozialraumorientierung
  • Vorrang von Prävention
  • Passgenaue Hilfen

Frühzeitig wurde die fachliche Gesamtstrategie Ende 2022 weiterentwickelt, detaillierte Maßnahmen herausgearbeitet und beschlossen. Die Maßnahmen sind bereits umgesetzt oder befinden sich in der Umsetzung.

Einzelne Maßnahmen sind beispielsweise, die digitale Beratung auszubauen und die außerordentlich aufwändigen und zeitraubenden Dokumentationsprozesse zu verschlanken.

Weiter gibt es interne Umstrukturierungen. So werden sogenannte Bezirksteams geschaffen. Diese haben kurze Dienstwege, bestehen aus kleineren Teams, so dass eine bessere Vertretung möglich ist. Es wird ein Kriseninterventionszentrum aufgebaut und eigene ambulante Fachkräfte werden für das CaseManagement eingestellt, so dass schnellere und gezieltere Handlungsoptionen möglich sind.

Die Zusammenarbeit öffentlicher und freier Träger wird gestärkt und aufgebaut. Gerade in aktuellen (Not-)Situationen ist diese Maßnahme ein zentraler Faktor dafür, dass zügig und zielführend Verbesserungen erzielt werden. Beide haben grundsätzlich dieselben Problematiken. Trägerübergreifende Fallkonferenzen etwa können in manchen Fällen sach- und fachgerechte Hilfe ermöglichen.

Erste neue institutionsübergreifende Angebotsformen wurden bereits umgesetzt. Zum Beispiel: Angebote in den Sozialräumen der Kinder und Jugendlichen, also deren Umfeldern. Und ganz wesentlich: In den bestehenden Notsituationen besteht keine Zeit für langwierige Korrespondenzen.

Forderungen/Anregungen:

  • Um sich für die neuen Entwicklungen in der Jugendhilfe gut aufzustellen, müssen kompetente, entscheidungsbefugte Personen aller Beteiligten auf örtlicher Ebene in den Austausch kommen! Vor allem ist dieser Austausch auch deshalb wichtig, da von Kreis zu Kreis ganz unterschiedliche Voraussetzungen und Möglichkeiten für Handlungsoptionen bestehen.
  • Land, Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS), kommunale Ebene und freie Träger an einen Tisch, ohne Verweisungen auf Zuständigkeiten!
  • Gemeinsamer, integrierter und schneller Austausch zur Zukunft der Jugendhilfe und deren flexiblen und dennoch sicheren Gestaltung. Hier sollte auch offen über Prioritätensetzungen und zumindest vorübergehenden Standardabsenkungen diskutiert und entschieden (!) werden.
  • Gedanken zur Ausgestaltung der Garantenpflicht. Bspw. erbringen freie Träger (auch aufgrund der Subsidiarität) einen Großteil der jugendhilferechtlichen Angebote und können sich, wenn´s eng wird, ihr Klientel aussuchen. Die Garantenpflicht verbleibt aber beim öffentlichen Träger.

Die Rechnung ist einfach: Die Kinder und Jugendlichen, die Bedarf haben aber keine adäquate Hilfe und Unterstützung bekommen, sind ihrem Schicksal belassen. Und: „Wenn Kinder unsere Zukunft sind, wie immer wieder betont wird, dann ist es in unser aller Verantwortung diese Zukunft nicht in Gefahr zu bringen."

Jürgen Stach ist Sozialdezernent im Landratsamt Schwarzwald-Baar-Kreis
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