Wie haben Sie die Zeit vor 20 Jahren in Erinnerung?
Deutschland war Anfang der 2000er Jahre wirtschaftlich der „kranke Mann Europas“, so die Einschätzung vieler in- und ausländischer Ökonomen. Wirtschaftlich kam man nicht vom Fleck. Der Arbeitsmarkt war verkrustet und die Arbeitslosigkeit hoch.
Aufgrund zahlreicher Skandale bei der Bundesagentur für Arbeit wegen angeblich geschönter Vermittlungszahlen entbrannte die Diskussion, wie man langzeitarbeitslose Menschen am besten betreut und wieder in Arbeit vermittelt. Soll dies weiterhin die Bundesagentur machen? Soll man diese Aufgabe den Kommunen übertragen, die ohnehin seit Jahrzehnten mit der Betreuung von Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern Erfahrung hatten?
Es war ein Verdienst des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, den Arbeitsmarkt radikal zu reformieren. Die Reformgesetze Hartz I – IV unter dem von Schröder eingesetzten VW-Manager Peter Hartz waren einschneidend. Die damalige Arbeitslosenhilfe wurde mit der Sozialhilfe verschmolzen und in ein neues Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) gegossen. Das Arbeitslosengeld II war deutlich geringer als die bisherige „Arbeitslosenhilfe“ und die Widerstände waren groß. Dies manifestierte sich in großen und zahlreichen Demonstrationen – vor allem im Osten der Republik.
Die Jahre nach der Jahrtausendwende waren nach meiner Erinnerung geprägt von mutigen Reformen, gerade auch in Baden-Württemberg. Neben der Reform des Arbeitsmarktes („Hartz IV“) gab es eine große Verwaltungsreform in Baden-Württemberg, die fast zeitgleich im Land exekutiert wurde. Auch hier blieb „kein Stein auf dem anderen“ und viele vormals staatliche Behörden wurden kommunalisiert. Die beiden Landeswohlfahrtsverbände Baden und Württemberg-Hohenzollern wurden aufgelöst. Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen wurde den Kommunen übertragen. Der Reformgeist war seinerzeit erheblich und wurde konsequent umgesetzt.
Wie ging es dann weiter?
Bei der Arbeitsmarktreform gab es in 2004 ein kleines Zeitfenster, in dem sich Stadt- und Landkreise um die Betreuung und Vermittlung von Langzeitarbeitslosen in Eigenregie – ohne die Bundesanstalt für Arbeit (so der damalige Namen) – als sogenannte Optionslandkreise bewerben konnten. Das entsprechende Bundesgesetz sah eine begrenzte Anzahl an kommunalen Trägern für die Umsetzung von „Hartz IV“ in Eigenregie vor.
In Deutschland durften maximal 69 Landkreise optieren, so das entsprechende Gesetz. Im Sommer 2004 haben sich in Baden-Württemberg fünf Landkreise gefunden, die dies umsetzen wollten.
Diese fünf Landkreise hielten zusammen wie Pech und Schwefel! Es passte damals – trotz vieler Unterschiedlichkeiten – einfach alles. Man verstand sich sofort und arbeitete gemeinsam am Ziel, diese Jahrhundertreform erfolgreich zu meistern – trotz vieler Widerstände. Wir waren Exoten – und das ließ man uns immer wieder spüren.
Besonders hervorheben möchte ich in der damaligen Pionierphase den Einsatz des Sozialdezernenten des Landkreistages Baden-Württemberg, Dietmar Herdes. Ohne seinen Mut, seine Entschlossenheit und seine unerschütterliche Überzeugung, dass die Option funktioniert und eine große Chance für die Landkreise zur aktiven Gestaltung von Sozialpolitik ist, hätten wir uns in der Umsetzungsphase sicher enorm schwer getan.
Es gab damals zig Treffen in der Geschäftsstelle des Landkreistages in der berühmten Panoramastraße in Stuttgart, die von Dietmar Herdes organisiert und vorbereitet wurden. Es war eine anstrengende, aber schöne Zeit. Wir konnten in der Tat Sozialpolitik prominent gestalten. Wir werden nicht vergessen, wie sehr der Landkreistag uns zur Seite stand. Im Übrigen auch der Deutsche Landkreistag in Berlin. Der Hauptgeschäftsführer, Prof. Dr. Hans-Günter Henneke, machte ebenfalls nie einen Hehl daraus, dass er die Option als große Chance für die Kommunen sah. Auch von dort erhielten wir Rückenwind, was nicht selbstverständlich war.
Was hat den Landkreis damals bewogen, sich als Optionslandkreis zu bewerben?
Interessanterweise wurde bei uns im Landkreis Tuttlingen der Wunsch zur Option nicht „von oben aufoktroyiert, sondern die Bewegung in diese Richtung kam „von unten nach oben“. Der Impuls kam direkt von unserem Sozialamt – und wurde dann erfolgreich nach oben getragen - bis hin zum Landrat und den Kreisgremien. Die Rolle des damaligen Sozialamtsleiters Hermann Ristau war enorm. Er brannte für die Option und hat alle angesteckt.
Zum Hintergrund: Wir hatten bereits vor der Jahrtausendwende ein sehr erfolgreich verlaufendes Projekt „Arbeit statt Sozialhilfe“ im Sozialamt eingeführt. Durch unbürokratische Vorgaben und einem attraktiven Lohnkostenzuschuss für Arbeitgeber (aus Landkreismitteln) hatten wir innerhalb von wenigen Jahren über 1.000 arbeitslose Sozialhilfeempfänger in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt.
Wir hatten Sorge, dass unser „Leuchtturmprojekt“ eingedampft wird, wenn wir zu stark mit einer Bundesbehörde („Gemeinsame Einrichtung“) integriert werden. Wir wollten unser Erfolgsmodell unbedingt 1:1 fortsetzen. Darüber hinaus war es unsere Überzeugung, dass wir in Eigenregie den Menschen mit Handicaps gerechter begegnen können, zumal wir sehr viele flankierende Hilfen im Haus haben (Schuldnerberatung, Jugendhilfe, Suchtberatung, Familienhilfe, Wohnsitzlosenhilfe u.v.m.). Es war unsere tiefe Überzeugung, dass eine kommunal gesteuerte Sozialpolitik den Bedürfnissen von Menschen mit Handicaps deutlich gerechter wird. Wir wollten die Sozialarchitektur des Landkreises selber gestalten.
Ich kann mich noch gut an einen heißen Sommertag in Pforzheim im Jahr 2004 erinnern, an dem das Ministerium final wissen wollte, wer sich nun letztlich als Optionslandkreis bewirbt. Wir haben in Absprache mit dem damaligen Landrat Guido Wolf die Hand gehoben und uns offiziell erklärt.
Unser Kreistag hat dann im Herbst 2004 einstimmig beschlossen, dass wir die Option einführen wollen. Dies war nicht selbstverständlich, zumal in den Parteien innerhalb des Kreistags die Sympathie für die Option unterschiedlich ausgeprägt war. Dieser einstimmige Beschluss gab uns enormen Rückenwind. Unser heutiger Landrat Stefan Bär saß damals ebenfalls als Kreisrat mit im Gremium.
Was passierte dann?
Am 27. September 2004 hat der Bund per Rechtsverordnung mitgeteilt, dass wir Optionslandkreis sind. Bis zur Umsetzung zum 1.1.2005 waren es nur noch rd. 12 Wochen. Es musste dann unglaublich vieles organisatorisch geleistet werden.
Wir mussten in Rekordzeit 30 neue Mitarbeitende einstellen. Ferner brauchten wir neue Büroräume und die entsprechende Ausstattung.
Wir haben zwei Anbauten in Modularbauweise (Containerzeilen) für ca. 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter direkt am Landratsamtsgebäude angedockt. Innerhalb 12 Wochen standen die Container als Provisorium. Wie viele sogenannten Provisorien, wurden diese dann tatsächlich über 15 Jahre genutzt!
Es war in der Tat eine turbulente Zeit. Die Fallzahlen haben sich am 1.1.2005 auf einen Schlag mehr als verdoppelt – und zwar von 2.000 auf 5.000 Personen, für die wir zuständig wurden.
Das Verhältnis zur Agentur für Arbeit war etwas schwierig zu jener Zeit. Man war „not amused“, dass man als Landkreis Tuttlingen nicht in eine Gemeinsame Einrichtung eintreten wollte. Wochenlang kamen „Waschkorbweise“ Papierakten (Arbeitslosenhilfe) von der Agentur, die wir mühsam in unser System einpflegen mussten. Eine digitale Übertragung der Akten wurde damals seitens der Bundesagentur „aus Datenschutzgründen“ abgelehnt. So mussten wir den immensen Fallbestand an Arbeitslosenhilfe-Akten händisch eingeben. Oft auch an Samstagen aufgrund des enormen Zeitdrucks.
Für die Integration dieser neuen Fallakten von der Agentur war es enorm hilfreich, dass wir damals schon eines der ersten Sozialmämter waren, die papierlos arbeiten konnten. Dies hat uns sehr geholfen.
Mehr als 10 Jahre war das Kommunale Jobcenter im Sozialamt integriert. Der Sozialamtsleiter war gleichzeitig Leiter des Jobcenters. In 2015 haben wir das Kommunale Jobcenter als eigenständige Abteilung aus dem Sozialamt herausgelöst. Seiher ist das Kommunale Jobcenter eine eigenständige Einheit innerhalb des Landratsamtes.
Wie ist Ihre Einschätzung nach 20 Jahren Option? Hat sich der Einsatz gelohnt?
Wir sind der festen Überzeugung, dass die damalige Entscheidung richtig war. Auf der anderen Seite stellen wir fest, dass jede Organisationsform auf ihre spezielle Art funktioniert. Auch die Gemeinsamen Einrichtungen machen einen tollen Job. Die Zusammenarbeit mit der Agentur vor Ort ist – obgleich wir Optionslandkreis sind - sehr gut und wir unterstützen uns gegenseitig. Als Kommunales Jobcenter haben wir eine schlanke Hierarchie und schnelle Entscheidungswege. Ferner haben wir sehr viele wichtigen Hilfen unter einem Dach – wie die Schuldnerberatung und die Jugendhilfe. Die Anbindung vieler wichtiger Beratungsstellen wie die Suchtberatungsstelle und die Wohnungslosenhilfe ist gewährleistet. Und die Verzahnung mit der Flüchtlingshilfe (Asyl, Ukraine) ist sehr hilfreich. Dies hilft ebenfalls enorm, da die Absprachen sehr schnell erfolgen. Letztlich können wir Sozialpolitik für Menschen mit Handicaps direkt und unmittelbar gestalten. Wir haben es selber in der Hand, wie wir uns organisieren. Dies hat große Vorteile. Die Entscheidung für die Option damals vor 20 Jahren war mutig. Und wir sind froh, dass alles so gut aufgegangen ist.
• Jahrgang 1963
• Diplom Politik- und Verwaltungswissenschaftler
• Fallschirmjäger
• Persönlicher Referent von Volker Kauder MdB
• Seit 1999 Sozialdezernent im Landkreis Tuttlingen