20 Jahre Kommunale Jobcenter

Akteure der ersten Stunde halten Rückschau

Harald Lämmle, Leiter des Kommunalen Jobcenters Biberach, und Joachim Schwarzfischer, Leiter des Kommunalen Jobcenters Tuttlingen, im Gespräch mit Birgit Seiberling, Referentin beim Landkreistag Baden-Württemberg
Birgit Seiberling · Landkreistag Baden-Württemberg · 11. April 2025
Amtsleiter Harald Lämmle, Jobcenter Biberach (rechts), und Amtsleiter Joachim Schwarzfischer, Jobcenter Tuttlingen (links)
Amtsleiter Harald Lämmle, Jobcenter Biberach (rechts), und Amtsleiter Joachim Schwarzfischer, Jobcenter Tuttlingen (links)
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Das „Go“ vom Bund für die 69 Optionskommunen gab es nach intensiven und mit Kompromissen behafteten Gesetzgebungsverfahren - die Ausgestaltung des Optionsmodells war erst zu Beginn des 2. Halbjahrs 2004 abgeschlossen - erst im September 2004 vom damaligen Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit unter Minister Wolfgang Clement.

Sie hatten also nicht viel mehr als drei Monate Zeit, um sich auf die große Aufgabe der Betreuung und Vermittlung von Langzeitarbeitslosen und ihrer Familien vorbereiten. Wie war das für Sie?

Harald Lämmle: Mit der Zusage begann eine spannende und herausfordernde Zeit, die sehr viel Kraft gekostet hat, aber auch viel Freude bereitete. Sehr positiv war die bestehende Aufbruchstimmung.

In der Sozialhilfe hatten wir bereits viel positive Erfahrung mit dem Projekt „Hilfe zur Arbeit“ sammeln können. Dadurch konnten wir auf ein gutes Netzwerk aufbauen. Eine Herausforderung war sicherlich die Rekrutierung von etwa 40 Mitarbeitenden. Aber auch die Struktur und die Arbeitsabläufe mussten ausgearbeitet und die neuen Mitarbeitenden für ihre jeweilige Tätigkeit geschult werden. Wichtig für uns war auch der Ausbau der Kontakte zu den örtlichen Arbeitgebern und Verbänden, um unsere Kunden in eine Arbeit oder Ausbildung vermitteln zu können. Heute kann ich sagen, es war schon gigantisch, was wir in kurzer Zeit auf die Beine gestellt haben.

Joachim Schwarzfischer: Nicht nur die Einstellung neuer Mitarbeitenden, sondern auch der sehr kurzfristig entstehende Raumbedarf stellte den Landkreis Tuttlingen vor enorme Herausforderungen. Gleichzeitig zur Einführung des SGB II fand zum 01.01.2005 in Baden-Württemberg auch eine Verwaltungsreform statt, bei der Landesbehörden in die Landratsämter eingegliedert wurden. Dem ließ sich nur durch die schnelle Beschaffung von Bürocontainern entgegnen, die direkt an das Hauptgebäude angebaut wurden.
 

Wie konnten Sie als Amtsleitungen die „Übergabe“ in kommunale Hände gestalten - im Hinblick auf Mitarbeitende/Akten/Räumlichkeiten….?

Harald Lämmle: Wir verfolgten bereits von Anfang an das Ziel, die Aufgabe so schnell wie möglich für unsere Bürger zu übernehmen. Von über 800 Bewerbungen konnten wir in unzähligen Vorstellungsrunden am Wochenende sehr motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewinnen. Die erforderlichen Räumlichkeiten konnten vom Landkreis rasch zur Verfügung gestellt werden, so dass wir auch sofort loslegen konnten. Kurze Zeit später konnten wir dann sogar mit dem gesamten Sozialdezernat in ein neues Gebäude umziehen und alle Bereiche unter einem Dach vereinen.

Damals arbeiteten wir noch mit Papierakten – heute kaum noch vorstellbar. Diese wurden wöchentlich von einer Spedition von der Agentur für Arbeit zu uns gefahren und mussten händisch in der EDV erfasst werden, damit alle Zahlungen über uns erfolgen konnten. Zeitgleich galt es damals rund 3.000 Arbeitsuchende in eine persönliche Beratung aufzunehmen und die berufliche Eingliederung zu begleiten. Bereits im März 2005 konnten wir alle Kunden bei uns betreuen und auch die bundesweite BA-Statistik bedienen – als einer der ersten bundesweit.

Joachim Schwarzfischer: Wir arbeiteten bereits seit 2001 mit einer elektronischen Akte und scannten daher die per LKW angelieferten Papierakten der Agentur für Arbeit in dieses System ein. Die Agentur für Arbeit bewilligte Neuanträge von Arbeitslosenhilfeempfängern, die Ende 2004 gestellt wurden, noch für die ersten sechs Monate, bevor wir dafür zuständig wurden.
 

Gibt es Beispiele zum Schmunzeln? Was war besonders herausfordernd? Was hat Ihnen den Schlaf geraubt?

Harald Lämmle: Besonders herausfordernd war mit vielen neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine komplett neue Aufgabe zu übernehmen und zu wissen, dass unsere Bürger auf unsere Geldleistungen angewiesen sind. Unsere Leistungen benötigen sie, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Hier kreisten viele Gedanken in mir, wie wir es schnell und gut sicherstellen können.

Klar gab es auch Situationen zum Schmunzeln. Ich erinnere mich z.B. an – sagen wir mal – sehr interessante Bewerber und deren phantasievollen Vorstellungen von unseren Aufgaben. 

Joachim Schwarzfischer: Als sich die Nachricht von den oben erwähnten Bürocontainern verbreitete, war die Tendenz der Mitarbeitenden: Nie werde ich in einen Container einziehen. Als diese dann bezugsfertig waren, entbrannte ein regelrechter Run darauf, wer darin arbeiten durfte! Die großzügigere Bürofläche motivierte da sehr.

Die Teilnahme an Veranstaltungen in Berlin beim BMAS waren für eine Kommunalverwaltung etwas völlig Neues. Dienstreisen nach Stuttgart zum Landkreistag oder dem Landesministerium waren damals das Höchste der Gefühle. Der Finanzverwaltung die Notwendigkeit für Flüge nach Berlin mit Übernachtungen zu verdeutlichen, war eine Herausforderung.
 

Wie konnten Sie dann innerhalb der kommunalen Zuständigkeiten die Chance der optimalen Verzahnung von Jugendhilfe, Kinderbetreuung, Wirtschaftsförderung etc. voranbringen?

Harald Lämmle: Die enge Vernetzung mit den kommunalen Aufgaben war ein Grund für die Option. Wir haben bereits ab dem Start mit den Beratungsdiensten und dem Jugendamt sehr eng zusammengearbeitet. Diese sind bis heute verlässliche Partner für uns.

Die Schuldnerberatung ist direkt im Jobcenter angesiedelt. Mit dem Jugendamt führen wir gemeinsame Projekt durch. Aber auch die Gemeinden sind für uns wichtig, da direkt vor Ort eine unglaubliche Leistung erbracht wird und unsere Bürger unterstützt und Kontakte zu Arbeitgebern hergestellt werden.

Joachim Schwarzfischer: In Tuttlingen war das Jobcenter ein Sachgebiet innerhalb des Sozialamtes. Wohngeldstelle, Schuldnerberatung, das Sachgebiet BaföG, das SGB XII und auch der Bereich Asyl waren zu Beginn ein gemeinsames Amt. Erst später, als die Option entfristet war, wurden die Bereiche Asyl und SGB II in eigene Ämter umgewandelt. Das Jugendamt und das Gesundheitsamt gehörten darüber hinaus schon immer wie das Sozialamt zum Sozialdezernat und daher waren kurze Wege für Abstimmungen zwischen den Rechtsbereichen üblich. Und die Gemeinden gaben für uns schon davor Anträge aus, nahmen diese zur Weiterleitung an uns entgegen und unterstützten auch die Antragsteller. Somit gab es auch in dieser Richtung schon immer einen engen Kontakt.  
 

Konnten Sie mit eigenen Beschäftigungsfirmen und deren Angeboten die Eingliederung in das Erwerbsleben besser an den Bedürfnissen der Arbeitssuchenden ausrichten?

Harald Lämmle: In Biberach haben wir keine eigene Beschäftigungsfirma aufgebaut. Wir arbeiten jedoch sehr eng mit Trägern zusammen, die langzeitarbeitslosen Personen bei der Heranführung an den Arbeitsmarkt unterstützen. Die Träger verfügen über langjährige Kompetenz in der sozialen Arbeit und der beschäftigungsorientierten Förderung unserer Arbeitsuchenden, die bis weit vor der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende reicht.

Joachim Schwarzfischer: Auch in Tuttlingen gibt es keine eigene Beschäftigungsfirma. Wir können auf eine langjährige und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den örtlichen Anbietern von Arbeitsmarktdienstleistungen zurückgreifen.
 

Welche Meilensteine für Ihr Kommunales Jobcenter würden Sie im Nachhinein sehen bezüglich der Veränderungen in Zusammensetzung der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, der Struktur der Klientel seit der Flüchtlingswelle 2015?

Im Hinblick auf die Grundsicherung?

Im Hinblick auf die Eröffnung neuer Perspektiven für die Kundinnen und Kunden hinsichtlich Qualifizierung und Arbeitsvermittlung – was ja im Fokus steht?

Harald Lämmle: Die Situation der Flüchtlingswelle 2015/2016 und auch der Kriegsbeginn in der Ukraine stellte uns vor große Herausforderungen. Wir mussten jeweils innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von Flüchtlingen betreuen. Da bei sehr vielen Flüchtlingen zu erwarten war, dass eine Anerkennung in kurzer Zeit erfolgen wird, haben wir bei der ersten Flüchtlingswelle die Agentur für Arbeit zu einer Bürogemeinschaft bei uns eingeladen. Damit haben wir sichergestellt, dass die berufliche Eingliederung trotz eines Rechtskreiswechsels nahtlos weiterläuft.

In den letzten Jahren hat sich der von uns betreute Personenkreis stetig verändert. Hatten in 2005 rund 20 % unserer Arbeitsuchenden einen ausländischen Pass, so sind dies heute rund 60 %. Die Sprachförderung hat damit einen höheren Anteil in der Beratung eingenommen. Unverändert ist jedoch die Ausrichtung unserer Arbeit auf die regionalen Anforderungen des Arbeitsmarktes. Dabei ist es schon erfreulich, dass Arbeitgeber Arbeitsplätze so gestalten, dass unsere Bürger eine Arbeit aufnehmen können.

Joachim Schwarzfischer: Auch mit der Corona-Krise begannen bereits andere Personen als zuvor Anträge auf Unterstützung zu stellen. Insbesondere Selbständige und Künstler, die massive Einkommenseinbrüche verzeichneten bis hin zur Aufgabe des Gewerbes, kamen in dieser Zeit in den Leistungsbezug. Teilweise konnten Hoffnungen auf Unterstützung dann auch nicht in dem Umfang befriedigt werden, wie die Erwartungen der Antragsteller durch Ankündigungen und Berichte geschürt wurden.
 

Der Beschluss der Einführung des Bürgergeldes, welches Hartz IV ersetzt hat, war nahezu erst am Jahresende 2022 in trockenen Tüchern und musste gleich zum Neujahr 2023 funktionieren. Wie erinnern Sie die Herausforderung – oder auch Belastungssituation?

Harald Lämmle: Ich bin dankbar, dass unser Kreistag uns mit der Einführung des Bürgergeldes zusätzliche Stellen genehmigt hat. Diese waren durch die Erweiterung des Personenkreises mit Leistungsanspruchs zwingend erforderlich. Obwohl die Einführung von Karenzzeiten, verbunden mit neuen sowie höheren Freibeträgen und weiteren Rechtsänderungen, sehr viel Schulungsaufwand mit sich brachte, ist uns eine rechtlich richtige und rechtzeitige Umsetzung und Leistungsauszahlung gelungen.

Joachim Schwarzfischer: Die reine Umstellung der Leistungen stellte für uns die kleinere Herausforderung dar. Erhöhung von Regelbedarfen und Änderungen bei den Kosten der Unterkunft waren in der Vergangenheit jährlich umzusetzen. Die Schulung der Mitarbeitenden und das Verankern der neuen Regeln in den Köpfen stellte da die größere Herausforderung dar. Weg von verbindlichen Anforderungen und Hin zu freiwilliger Zusammenarbeit bedingte schon ein enormes Umdenken.
 

Mit Beginn des Ukrainekriegs und der anhaltenden Flüchtlingsbewegung aus dem Kriegsgebiet nach Deutschland und den hohen Zuläufen in Baden-Württemberg hat die Entscheidung des Rechtskreiswechsels zum 01.06.2022 eine nochmalige „Schippe“ auf die Leistungsfähigkeit der Jobcenter draufgesetzt.

Wie beschreiben Sie die Anforderungen an Ihr Jobcenter - im Nachhinein und aktuell?

Harald Lämmle: Innerhalb eines Monats ist die Zahl der von uns betreuten Familien um über 30 % gestiegen. Dies stellte meine Mitarbeitenden sehr lange vor unglaubliche Belastungen. Viele gute und erfahrene Mitarbeitenden haben uns verlassen, so dass wir bei einem leeren Arbeitsmarkt neue Mitarbeitenden suchen mussten. Glücklicherweise konnten wir uns auf den Landkreis verlassen, der uns Mitarbeitende zur Verfügung gestellt und weitere erforderlichen Stellen bewilligt hat. Wir hatten erstmalig mehr Arbeitslose zu betreuen als die örtliche Agentur für Arbeit bei der höchsten Zahl an zu betreuenden Bedarfsgemeinschaften seit der Einführung der Grundsicherung in 2005.

Auch im Nachhinein tue ich mir schwer zu verstehen, weshalb der Beschluss eines Rechtskreiswechsels von Ukrainern ohne eine ausreichende Übergangsfrist auf dem Rücken der Jobcenter umgesetzt wurde bzw. überhaupt getroffen wurde.

Joachim Schwarzfischer: Mit einer enormen Anstrengung der Kolleginnen und Kollegen konnte innerhalb kürzester Zeit die Umsetzung erfolgen. Hier kam uns zu Gute, dass der Bereich Asyl (wo die ukrainischen Flüchtlinge zuvor schon Leistungen erhielten) mit demselben Leistungsprogramm wie das Jobcenter arbeitete. Es mussten dann „lediglich“ Daten kopiert und geprüft, jedoch nicht komplett neu erfasst werden. Innerhalb von drei Wochen konnten knapp 1.000 Fälle umgestellt und zur Auszahlung gebracht werden. Anders wie andere Jobcenter war dazu keine Einschränkung der Öffnungszeiten erforderlich.
 

Das „Ampel – Aus“ und die nun damit verbundenen „Warteschleifen“ bis zu einer Haushaltsausstattung für die Jobcenter könnte bedeuten, den Wunsch nach einer auskömmlichen und guten Finanzausstattung besser erfüllt zu bekommen.

Welche drei Wünsche möchten Sie an die künftige Politik in Berlin schicken?

Harald Lämmle:
• Das Leistungsrecht muss deutlich vereinfacht und Leistungen müssen pauschalisiert werden. Insbesondere durch einen Abbau der unterschiedlichen Leistungsansprüche, dazu teilweise noch bei unterschiedlichen Trägern, eine Angleichung der unterschiedlichen Einkommensbegriffe etc. könnte eine Entbürokratisierung wirkungsvoll erfolgen.
• Das Fördern und Fordern sollte wieder mehr im Mittelpunkt stehen.
• Planungssicherheit und eine ausreichende Mittelausstattung für die vielfältigen Aufgaben und für die erforderlichen Mitarbeitenden.

Joachim Schwarzfischer:
• Digitalisierungsvorhaben müssen in Hinblick auf die Demographie der Beschäftigten zügig umgesetzt werden.
• Politischer Wille muss auf Praktikabilität vor Verabschiedung eines Gesetzes geprüft werden – Praktiker vor Ort sollten in die Umsetzung rechtzeitig eingebunden werden.
• Die Auswirkungen von Entscheidungen sollten besser überdacht und vorbereitet werden.

Informationen zu den Gesprächspartnern:

Harald Lämmle:
• Jahrgang 1966
• Ausbildung und nebenberufliches Studium bei der Agentur für Arbeit
• 2001 Wechsel ins Landratsamt Biberach
• Seit 2005 Leiter des Jobcenters Biberach


Joachim Schwarzfischer:
• Jahrgang 1963
• Zunächst Lehre als KZF-Mechaniker
• Nach 12 Jahren Zeitsoldat bei der Bundeswehr Studium
   gehobener nichttechnischer Verwaltungsdienst in Kehl
• Seit 1997 in unterschiedlichen Bereichen im Sozialamt
   des Landkreises Tuttlingen 
• Seit Februar 2006 Leiter des Jobcenters Tuttlingen

Birgit Seiberling ist Referentin für Arbeit, Soziales, Teilhabe beim Landkreistag Baden-Württemberg
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