Im Hinblick auf die hohe Anzahl bereits jetzt schon bestehender Singlehaushalte und die dadurch zunehmende Einsamkeit von Menschen haben wir es auch in unserem Landkreis mit entsprechenden Folgeerkrankungen zu tun.
Prekäre Wohnsituationen – bei fehlenden Alternativen – und altersunabhängiger eingeschränkter Mobilität führen in kurzer Zeit schnell zu einer nicht selbst gewählten Einsamkeit und zur Ausgrenzung an der sozialen Teilhabe. In kurzer Zeit entsteht eine äußerst kritische Versorgungssituation, die dazu führt, dass sich bei den Betroffenen die gesundheitliche Situation deutlich verschlechtert. Es kommt zur stationären Aufnahme im Akutkrankenhaus und von dort in eine vollstationäre Pflegeeinrichtung, sofern dort überhaupt Kapazitäten vorhanden sind. In diesen Einrichtungen sind die Menschen oft überversorgt und in ihrer Selbstbestimmtheit massiv eingeschränkt.
Die freien Kapazitäten in Pflegeheimen hängen mittlerweile nicht mehr von der Anzahl der belegbaren Betten ab, sondern vom (nicht) vorhandenen Pflegepersonal. Die Stellenschlüssel geben eine Vollbelegung nicht mehr her, was dazu führt, dass unsere Wohnkomplexe mit Quartiersbezug Leerstände haben und zwischenzeitlich ganze Etagen geschlossen sind.
Das Thema Pflege ist gesellschaftlich noch immer ein Tabuthema, wird zu sehr mit "Alter" assoziiert und viele Menschen beschäftigen sich schlichtweg zu spät damit; in der Gesellschaft besteht die Erwartungshaltung, dass im Pflegefall Strukturen greifen, die Pflege zu 100 % sichergestellt und von den Sozialhilfeträgern finanziert wird.
Prävention, Integration und Selbstbestimmtheit
Wir sind uns einig, dass ein "weiter so" in den bisherigen Strukturen der Pflege und Betreuung langfristig nicht mehr möglich sein wird. Die Herausforderung besteht darin, von den bekannten Pflegestrukturen wegzukommen, hin zu Prävention, Integration und gesellschaftlicher Selbstbestimmtheit. Die Pflege ist der "Seismograph" sämtlicher gesellschaftlicher Entwicklungen.
Sektorenübergreifend
Mit den Sozialgesetzbüchern V und XI wurde ein System geschaffen, das der Gesellschaft (scheinbar) alles abnimmt.
Bürokratische Hürden wie die Landespersonalverordnung, das SGB VIII, das WTPG (Wohn-, Teilhabe und Pflegegesetz) etc. erschweren innovative Ansätze. Darüber hinaus wird noch zu sehr in Sektoren gedacht.
Sämtliche Veröffentlichungen im ersten halben Jahr 2023 zur Situation der Pflege kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Ein „weiter so“ können wir uns nicht mehr leisten. Die Pflege ist bereits „an die Wand gefahren“, sie ist bisher lediglich noch nicht zerschellt. Um das zu verhindern, brauchen wir schnell die Genehmigung für die Umsetzung neuer Konzepte, die den Bedürfnissen der pflegebedürftigen Menschen, ihren Angehörigen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Trägern und den Kostenträgern entgegenkommen.
Das bereits heute schon verschwindende Vertrauen in die politischen Institutionen und damit in die Demokratie wird weiterhin Schaden nehmen, wenn es uns nicht gelingt, leb-bare Ergebnisse zu finden. Die Menschen haben den Eindruck, dass der Staat keine Ideen oder Lösungen aufzeigen kann, damit sie bei Pflegebedürftigkeit versorgt werden.
Die Akquise von Pflegefachkräften aus Drittländern ist nicht die erste Lösung. Wir müssen aufpassen, dass wir keine „postkolonialistische Haltung“ einnehmen, zumal fehlende Integrationskonzepte sowie eine mangelnde Willkommens- und Begleitkultur dazu führen, dass diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oft verheizt werden und nach wenigen Monaten frustriert und enttäuscht in ihre Heimatländer zurückkehren.
Es sind die vulnerablen Menschen, die hier in Baden-Württemberg leben und meist auch gearbeitet haben. Es ist unsere Gesellschaft. Ergo, müssen wir als Gesellschaft auch die Versorgung sichern.
Aufgrund der demografischen Entwicklung wird eine immer größer werdende Zahl an pflegebedürftigen Menschen einer gleichbleibenden Zahl an Pflegekräften gegenüberstehen, sodass es schlichtweg nicht ausreichen wird.
Wir haben keinen Pflegekräftemangel, wir haben einen Fehler im System. Es wurden genügend Menschen in den vergangenen Jahrzehnten ausgebildet. Diese haben aus Frust die Pflege verlassen oder sind selbst ins benachbarte Ausland gezogen. Solange viele Träger nicht bereit sind, neue Arbeitszeitmodelle und neue Konzepte umzusetzen, wird sich nichts ändern. Und so lange hinter vielen Trägern Aktiengesellschaften und Investmentfirmen sitzen, die ihre monatlichen Renditen ohne Rücksicht auf die Realität abschöpfen, erst recht nicht.
Wir müssen lernen, unsere vulnerable Bevölkerungsgruppe zu stärken, die Themen der Eigenverantwortlichkeit und Vorsorge immens aufzubauen und die Gesellschaft auf dem Weg zur Gesamtverantwortung zu begleiten.
Gleichzeitig erfordert es neue Konzepte zu entwickeln, die diesen Ansprüchen gerecht werden.
Die Gestaltungsspielräume kommunaler Seniorenpolitik sind strukturell begrenzt und von anderen (übergeordneten) Entscheidungsträgern abhängig. Als Herausforderungen sind hierzu beispielsweise das weitere Absenken des Rentenniveaus oder die zunehmende Spekulation der Finanzindustrie mit Pflegeleistungen anzusehen. Ebenso ist es im Sinne einer wirksamen und integrierten Sozialplanung notwendig, in der allgemeinen Perspektivplanung ländlicher Räume an Beachtung und Einfluss zu gewinnen.
Letztlich richtet sich die mögliche Versorgungsqualität daran aus, wie stark sich Familien, Nachbarschaften und soziale Netzwerke in die Betreuung und Pflege einbringen und welche Werte in unserer Gesellschaft handlungsleitend vorherrschen und den Senioren entgegengebracht werden.
Der Landkreis Tuttlingen hat die großen Herausforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung erkannt und stellt sich der Aufgabe im Rahmen der kommunalen Daseinsfürsorge.
Nachfolgende innovativen Projekte werden im Landkreis Tuttlingen durchgeführt oder sind bereits etabliert:
Sorgender Landkreis
Im Sinne der “Sorgenden Gemeinschaft“ erachten wir es als dringend notwendig, Hilfen für die in ihren Rechten bedrohten pflegebedürftigen Menschen zu schaffen. Es geht um die Entwicklung einer Sorgekultur im Zusammenwirken von Familien, sozialen Nachbarschaften, Freiwilligen sowie Professionellen.
Nur ein eigenverantwortlicher Umgang mit Pflegebedürftigkeit und Alter kann zu einem, halbwegs positiven, gesellschaftlichen Umgang führen. Dazu bedarf es eines umfassenden niederschwelligen und hochprofessionellen Beratungsnetzes.
Der Landkreis Tuttlingen will zu einem sorgenden Landkreis werden, der die Menschenrechte der auf Pflege angewiesenen Menschen und Menschen mit Behinderungen ernst nimmt. Daraus resultierend wurde in Zusammenarbeit mit der AGP Sozialforschung in Freiburg ein Erwachsenenschutzkonzept erstellt.
Zu Gast bei Nachbarn
Zudem werden Unterstützungsangebote in Gastfamilien für hilfe- und/oder pflegebedürftige Menschen in ländlich strukturierten Gebieten des Landkreises aufgebaut. Dadurch soll ein Zugang zu tagesstrukturierenden Angeboten für Menschen im ländlichen Raum und somit eine Entlastung von pflegenden Angehörigen geschaffen werden.
Die Angebote zur Teilhabe für ältere Menschen verfolgen das Ziel, einer Vereinsamung entgegenzuwirken.
Pflege- und Demenzbegleiterkurs für Frauen mit internationalen Lebenswurzeln und alle interessierten Frauen
Um eine qualitativ hochwertige Betreuung der demenziell erkrankten Menschen mit Migrationshintergrund zu gewährleisten, erachten wir es als unabdingbar, die ehrenamtlichen Begleiterinnen vor ihrem Einsatz in einer Betreuungssituation umfassend zu qualifizieren.
Die ausgebildeten Demenzbegleiterinnen wirken als Multiplikatorinnen und Lotsinnen in ihrem persönlichem Umfeld.
Dadurch öffnet sich die Pflegelandschaft für Familien mit Migrationshintergrund.
Servicepunkt Einzelhelfer/innen
Der Landkreis Tuttlingen ist innovativ, zudem weltbekannt durch die Medizintechnik, sowie kreativ und aktiv.
Insgesamt spiegelt sich dies auch in dem enormen Engagement der Nachbarschaftshilfevereine und der Leistungserbringer im Landkreis Tuttlingen wider, die sich mit Kreativität und einem hohen Maß an ehrenamtlichem Dienst für die betroffenen Menschen einsetzen.
Die Anforderungen an uns alle, sich im Landkreis Tuttlingen gemeinsam für die Versorgung hilfebedürftiger Menschen einzusetzen und diese auch in Zukunft mitzugestalten, ist uns ein großes Anliegen.
Im vergangenen Winter haben wir zwei Basisschulungen angeboten.
Die Basisschulungen werden von den Mitarbeiterinnen der Fachstelle für Pflege und Selbsthilfe organisiert und durchgeführt, dabei werden sie von Fachkräften der Dienste vor Ort bei einzelnen Modulen unterstützt.
Die Schulungen werden in den Kreisgemeinden angeboten, die sich aktiv auf den Weg machen, solide Versorgungsstrukturen für ältere und pflegebedürftige Menschen vor Ort zu etablieren und auszubauen.
Lokale Allianz für Menschen mit Demenz
Menschen mit Demenz möchten so lange wie möglich selbstständig und selbstbestimmt in ihrem vertrauten Umfeld bleiben. Die Betreuung und Unterstützung ist häufig kräfte- und nervenzehrend und leider wird das Thema Demenz in weiten Teilen unserer Gesellschaft stigmatisiert.
Kommunikationskonzept
Unser Ziel ist, durch eine professionelle Marketingstrategie die große Mehrheit der Menschen im Landkreis zu erreichen und dabei Ängste abzubauen. Pflege und Pflegebedürftigkeit gehören zu unserer Gesellschaft wie das Älterwerden und demenzielle Erkrankungen. Das ist keine „Katastrophe“ oder kein Grund zum „Schämen“, sondern ein natürlicher Prozess.
Durch das Kommunikationskonzept möchten wir auf die Angebote vor Ort, des Netzwerkes und Informationsquellen digitaler Art aufmerksam machen. Die Kampagne soll zu neuen Altersbildern verhelfen und vor allem junge Erwachsene ansprechen, denn diese ist die nächste "Pflegende-Generation". Nicht zuletzt wünschen wir uns durch eine positive Imagekampagne das Interesse für die Berufsbilder in der Pflege zu wecken.
Wir erwarten und erhoffen uns, dass die Menschen hier im Landkreis während des Projektes und danach bei den Worten „Pflege“ oder „Pflegebedürftigkeit“ direkt wissen, wo Informationen zu bekommen sind – wohnortnah und barrierefrei.
Mit dem Aufruf „WERDE EINE GEDÄCHTNISSTÜTZE“ gehen wir in die breite Öffentlichkeit.
InSel Café
Die Selbsthilfekontaktstelle des Landkreises Tuttlingen bietet im Rahmen der Initiative SELBSTFÜRSORGE regelmäßige Treffen für sorgende und pflegende Angehörige an.
Ziel ist es, auf körperliche und mentale Belastungen, die die Sorge und Pflege mit sich bringen können, aufmerksam zu machen und Hilfestellung zu leisten. Das Angebot der Initiative SELBSTFÜRSORGE umfasst: Einzelgespräche, Zugang zu Informationsmaterialen, individuelle Beratungsangebote, offener Stammtisch für Angehörige, Vermittlung zu Selbsthilfegruppen, Veranstaltungen, Workshops und andere Entlastungsangebote.
Seit November 2021 haben wir unser InSel Café (Initiative Selbsthilfe) geöffnet. Hier bieten wir jeden Dienstag und Freitag ein offenes Angebot für sorgende und pflegende Angehörige an.
Würdevolles Altern und würdevolle Pflege gelingt uns in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext, wenn wir dazu befähigen und stärken und wenn wir bereit sind, die Themen ernsthaft anzusprechen und für uns anzunehmen.