Barrierefreies Wohnen

Wie Wohnberatung die häusliche Pflege stärkt

83 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Baden-Württemberg werden zuhause versorgt. Diese selbst organisierte Form der Pflege ist nicht nur ein Wunsch der meisten Menschen – sie ist angesichts der demografischen Entwicklung und des Personalmangels auch eine notwendige Konsequenz. Umso wichtiger ist es, die häusliche Pflege zu stärken. Die Wohnberatung leistet an dieser Stelle einen zentralen Beitrag.
Barbara Steiner-Karatas , Lina Wallus · Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg · 06. Oktober 2023
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Häusliche Pflege kann nur funktionieren, wenn die persönliche Situation und die individuellen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Insbesondere bedarf es einer Anpassung des privaten Wohnraums an veränderte Bedürfnisse und die Notwendigkeiten der Pflege. Wohnberaterinnen und -berater unterstützen bei diesem Schritt: Sie informieren Senioren und Menschen mit Behinderung unabhängig und neutral über Hilfsmittel, bauliche Maßnahmen sowie über Finanzierungs- und Fördermöglichkeiten. Als Ergebnis formulieren sie Empfehlungen zur Umgestaltung bezogen auf die eigenen vier Wände.

Diese Empfehlungen reichen von kleinen, kostenlosen Anpassungen bis hin zu größeren Investitionen und umfassenden Umbaumaßnahmen. Ein Beispiel: Im Badezimmer kann es schon genügen, wenn ein Badvorleger als potenzielle Stolperfalle entfernt wird und Haltegriffe für den sicheren Gang einen Platz im Bad finden. Je nach individueller Situation kann jedoch auch ein barrierefreier Umbau des gesamten Badezimmers notwendig sein. Der geschulte Blick der Wohnberaterinnen und -berater hilft, für jeden eine passende Lösung zu finden.

Neu: Fortbildung zum zertifizierten Wohnberater

Nach der erfolgreichen Premiere im Jahr 2022 bietet der KVJS zusammen mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungsanpassung e.V. auch im Jahr 2024 wieder eine Fortbildung zum zertifizierten Wohnberater an. In 130 Unterrichtseinheiten werden Theorie- und Praxiswissen zur Wohnungsanpassung und -beratung vermittelt. Die Fortbildung beinhaltet sowohl Online- als auch Präsenzveranstaltungen und richtet sich an die Land- und Stadtkreise, Wohlfahrtsorganisationen und andere Institutionen sowie Privatpersonen in Baden-Württemberg.

Weitere Infos unter: www.barrierefrei-wohnen.kvjs.de

Potential und Wirkung von Wohnraumanpassung

Wohnraumanpassung kann sich positiv auf den Betroffenen selbst, auf Angehörige und auf den aktuellen Wohnungsmarkt auswirken:

• Die eigenen vier Wände im gewohnten Umfeld bieten jedem Menschen Sicherheit, Privatsphäre und Geborgenheit. Sie kann Selbstbestimmung und Teilhabe ermöglichen – aber auch verhindern: Einsamkeit wirkt sich negativ auf das Wohlbefinden und den Gesundheitszustand aus. Daher ist ein enger Einbezug im eigenen Quartier in jedem Alter wichtig. Voraussetzung für die Teilhabe im Quartier ist jedoch ein barrierefreier Zugang zur eigenen Wohnung und ein barrierearmes Wohnumfeld, das es ermöglicht, die Wohnung selbstständig und selbstbestimmt zu verlassen. Dies schafft die Voraussetzung für ein aktives Leben im Quartier.

• Innerhalb der Wohnung gefährden Stolperfallen die Gesundheit: Es wird geschätzt, dass das Risiko, einmal jährlich zu stürzen, bei Personen älter als 65 Jahre bei etwa 30 Prozent liegt, bei Personen älter als 80 Jahre sogar bei 40 Prozent.[1] Stürze lassen sich zwar nicht vollständig verhindern, jedoch können bereits kleine Maßnahmen das Risiko eines schweren Sturzes um bis zu 40 Prozent reduzieren. Gleichzeitig wird die physische Sicherheit erhöht.[2] 

• Durch den Mangel an Pflegekräften sind Pflegebedürftige stärker als in der Vergangenheit auf An- und Zugehörige angewiesen. Die Bereitschaft von Angehörigen und / oder Freunden, sich bei der Pflege ihres Angehörigen einzubringen, ist hoch. Im Rahmen des DAK-Pflegereports wurde erhoben, dass 68 Prozent der Bevölkerung „grundsätzlich dafür zu gewinnen wäre, (erneut) Angehörige zu pflegen oder zu betreuen.“[3] Um die Pflege tatsächlich leisten zu können, sind wiederum die individuellen Rahmenbedingungen, zum Beispiel in der Wohnung der unterstützungsbedürftigen Person, von zentraler Bedeutung. Die Evaluation des KfW-Förderprogramms „Altersgerecht Umbauen“ bestätigt, dass „insbesondere Maßnahmen an Sanitärräumen sowie der Standard `Altersgerechtes Haus´ den Befragten zufolge die Pflege durch Angehörige oder Pflegedienste“[4] erleichtern beziehungsweise ermöglichen. 

• Barrierefreier oder barrierearmer Wohnraum wirkt sich positiv auf pflegebedürftige Menschen sowie auf pflegende Angehörige aus. Allerdings wohnen nur wenige Senioren in einem barrierearmen oder barrierefreien Zuhause. Die Befragung im Rahmen des Mikrozensus 2022 zeigt, dass lediglich 17 Prozent der Wohnungen stufen- und schwellenlos erreichbar sind und nur gut 20 Prozent über eine schwellenlose Dusche verfügen.[5]

• Die Anpassung des Wohnungsbestandes an die Bedürfnisse älterer Menschen ist wichtig, um einerseits den Wohnungsmarkt zu entlasten, andererseits aber auch das Sozialsystem (zum Beispiel durch spätere Inanspruchnahme von Dauerpflegeplätzen).

Beratungs- und Infoangebote des KVJS auf der Homepage des KVJS www.barrierefrei-wohnen.kvjs.de

  • einen 360-Grad-Rundgang mit baulichen Lösungen und Hilfsmitteln durch die barrierefreie Musterwohnung „Werkstatt Wohnen“
  • Broschüren, Checklisten und Hilfestellungen, z.B. das KVJS Spezial „Wohnen ohne Barrieren“ barrierefrei-wohnen.kvjs.de/publikationen
  • Impulse für den Aufbau einer Wohnberatungsstelle
  • eine Übersicht über Wohnberatungsstellen in Baden-Württemberg
  • Veranstaltungen und Fortbildungen

Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen

Dass Wohnberatung eine Stütze zur Stabilisierung der häuslichen Pflege darstellt, zeigen die oben genannten Ausführungen. Hinzu kommt die Ressourcenknappheit im Bau von barrierearmen Neubauwohnungen, sodass der Fokus auf den altersgerechten Umbau gelegt werden sollte. Im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge könnte die Kommune an dieser Stelle unterstützen und verschiedene Maßnahmen initiieren, zum Beispiel:

Aufbau und Betrieb einer Wohnberatungsstelle,
um Bürgerinnen und Bürger sowie Institutionen neutral zu Umbau- und Anpassungsmaßnahmen zu beraten. Hilfreich kann eine Kooperation zwischen Haupt- und Ehrenamt oder mit einem erfahrenen Träger sein. Der Kreis / die Kommune könnte Schulungen und Fortbildungen für die Mitarbeitenden ermöglichen sowie Beratungsräume zur Verfügung stellen. Zudem muss nicht immer eine eigene barrierefreie Musterwohnung errichtet werden: Hilfreich sind bereits ein Technik- und Materialienkoffer oder die Nutzung des digitalen 360°-Rundgangs durch die Musterwohnung des Kommunalverbands für Jugend und Soziales Baden-Württemberg.

 Regionale Förderprogramme für altersgerechten Umbau anbieten.
Eine Beratung kann noch so hilfreich und informativ sein – wenn die Ergebnisse nicht umgesetzt werden können, verpufft die Wirkung. Anreize schaffen hier Förderprogramme zu barrierefreiem und altersgerechtem Wohnen, wie es zum Beispiel die KfW-Bank oder die Stadt Stuttgart durchführen.
Darüber hinaus könnten die Kreise bei der Antragstellung für Förderprogramme zum Strukturaufbau unterstützen, zum Beispiel bei einem Förderantrag zum „Quartier 2030 – Gemeinsam. Gestalten“.  

 Öffentlichkeitsarbeit, Kommunikation und Sensibilisierung der Bevölkerung, der Verwaltung und Politik intensivieren,
damit die Wohnraumanpassung Teil der persönlichen und politischen Agenda wird und ein Wissenstransfer stattfindet. Dies kann beispielsweise durch Information des Gemeinderats / Kreistags und über Newsletter, Veranstaltungen oder Veröffentlichungen erfolgen. Neben der individuellen Beratung ist die Sensibilisierung der Bevölkerung wichtig.

 Kooperationen und Vernetzung ausbauen.
Die kommunalen Pflegekonferenzen bieten beispielsweise den Kreisen die Möglichkeit, dass Thema „Wohnen im Alter“ in ihren Netzwerken verstärkt zu diskutieren, Arbeitsgruppen einzurichten und vor Ort geeignete Strukturen zu gestalten. Es könnten digitale oder analoge Austauschplattformen für Gemeinden, Akteure und Multiplikatoren / „Kümmerer“ errichtet werden, um die Vernetzung zu fördern. Der Austausch mit Pflegestützpunkten, Pflegekassen sowie (kommunalen) Wohnungsbaugesellschaften und Handwerkerunternehmen bieten ebenfalls einen Mehrwert.
 

Fazit
Die Kommunen stehen vor der Herausforderung, die pflegerische Versorgung auch bei zunehmendem Personalmangel und einer steigenden Zahl älterer Menschen sicherzustellen. Die Wohnberatung ist eine kurzfristig realisierbare Handlungsoption für die Kommunen, um die häusliche Pflege zu stärken. Mehrere Kommunen / Kreise in Baden-Württemberg haben diesen Aspekt erkannt und investieren in den Betrieb einer Wohnberatungsstelle oder setzen auf den Ausbau tragfähiger Kooperationsstrukturen. Unter Umständen ist eine Entlastung des stationären Systems durch Wohnraumanpassung möglich, was auch im Sinne des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ von zentraler Bedeutung ist. Auch wenn die Rolle der Kommunen in der Pflege grundsätzlich gesetzlich und finanziell gestärkt werden muss, bieten sich bereits heute verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten.

 


[1] Icks, A.; Becker, C. (2005): Sturzprävention bei Senioren: Eine interdisziplinäre Aufgabe, aerzteblatt.de, online verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/archiv/47870/Sturzpraevention-bei-Senioren-Eine-interdisziplinaere-Aufgabe

[2] Becker, C.; Woelk, S. (2015): Sicher leben auch im Alter – Sturzunfälle sind vermeidbar, Aktion DAS SICHERE HAUS & Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., S.5

[3] Klie, T. (2022): Pflegereport: Häusliche Pflege – das Rückgrat der Pflege in Deutschland, DAK-Gesundheit, S. 62

[4] Deschermeier, P.; Hartung, A.; Vaché, M.; Weber, I. (2020): Evaluation des KfW-Förderprogramms „Altersgerecht Umbauen (Barrierereduzierung – Einbruchschutz)“, Institut für Wohnen und Umwelt, S. 35 und 107

[5] Pestel Institut gGmbH (2023): Wohnen im Alter – Prognose zum Wohnungsmarkt und zur Renten-Situation der Baby-Boomer, Bundesverband Deutscher Baustoff-Fachhandel e.V., Hannover, S. 17

Barbara Steiner-Karatas ist Referentin "Pflege und Alter" beim Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg , Lina Wallus ist Referentin "Pflege und Alter" beim Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg
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