Für ein wohl geordnetes Gemeinwesen sind die vielfältigen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe unverzichtbar. Dazu gehören insbesondere Kindertagesbetreuung und frühkindliche Bildung, Kinder- und Jugendarbeit, Jugend- und Schulsozialarbeit, ambulante und stationäre Hilfen zur Erziehung, die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit (drohender) seelischer Behinderung und die Hilfe für junge Volljährige, Inobhutnahmen und der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. Die Kinder- und Jugendhilfe gehört damit zu den Kernelementen eines demokratischen Sozialstaats.
Dies zeigt sich im Übrigen auch im historischen Rückblick. Denn es bedurfte des ersten demokratischen Sozialstaats auf deutschem Boden, damit es überhaupt zu einem deutschlandweit einheitlichen Gesetz für die Kinder- und Jugendhilfe kommen konnte. Das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt, das vor exakt 100 Jahren in Kraft getreten ist, war eines der wichtigen Reformwerke der ersten deutschen Republik, maßgeblich vorangetrieben von der sogenannten Weimarer Koalition. Auch diese geschichtlichen Zusammenhänge bestätigen, dass eine im wahrsten Sinne des Wortes leistungsfähige Kinder- und Jugendhilfe zu den tragenden Säulen demokratischer Sozialstaatlichkeit zählt und schon deswegen besondere politische Aufmerksamkeit verdient.
Kinder- und Jugendhilfe auf jahrzehntelangem Wachstumskurs
Nun hat die Kinder- und Jugendhilfe in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung gewonnen. Dies ist zum einen einhergegangen mit einer zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung. Beispielhaft veranschaulichen lässt sich dies an der stationären Hilfe zur Erziehung. Neben den Heimgruppen größerer Einrichtungen gibt es heutzutage ein buntes Spektrum zusätzlicher Angebotsformen – beginnend bei dezentralen Wohngruppen über Erziehungsstellen bis hin zu betreutem Einzelwohnen. Überraschen kann dies nicht. Denn dass sich die Aufgaben- und Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe immer weiter auffächern, wenn die gesellschaftlichen Lebenswelten der jungen Menschen und in der Folge auch ihre Hilfebedarfe und -verläufe komplexer werden, liegt einigermaßen auf der Hand.
Zum anderen ist der Bedeutungsgewinn der Kinder- und Jugendhilfe auf einen jahrzehntelang ungebrochenen Wachstumskurs zurückzuführen. Dieser ist nirgends so offensichtlich wie in den Kindertageseinrichtungen. So ist die Zahl der Kita-Plätze in Baden-Württemberg innerhalb von nur zehn Jahren um deutlich über 90.000 auf 485.000 gesteigert worden. Das dynamische Wachstum der Kinder- und Jugendhilfe hat sich dabei natürlich auch auf die Beschäftigtenzahlen ausgewirkt. Inzwischen arbeiten ähnlich viele Menschen in den verschiedenen Aufgabengebieten der Kinder- und Jugendhilfe wie im gesamten Schulwesen. Bundesweit sind es rund 1,3 Millionen Menschen, die auf dem Feld der Kinder- und Jugendhilfe beruflich unterwegs sind, wobei etwas mehr als drei Viertel davon im Bereich der Kindertagesbetreuung tätig sind.
Und dieser jahrzehntelange Trend der Ausdifferenzierung und Expansion scheint nach wie vor ungebrochen zu sein. Exemplarisch zu nennen ist hier zum einen der gegen die Träger der Jugendhilfe gerichtete Rechtsanspruch von Kindern im Grundschulalter auf ganztägige Betreuung. Dieser wird ab dem Jahr 2026 schrittweise scharf gestellt und stellt die Kommunen vor schier unüberwindbare Probleme. Zum anderen ist die sogenannte inklusive Lösung zu erwähnen. Danach sollen ab dem Jahr 2028 die Jugendämter auch für Leistungen für Kinder und Jugendliche mit körperlicher und geistiger Beeinträchtigung vorrangig zuständig sein, wobei freilich der Bundesgesetzgeber erst noch die näheren Bestimmungen dazu treffen muss.
Kinder- und Jugendhilfe im Würgegriff des Fach- und Arbeitskräftemangels
Die Realitäten freilich sind inzwischen ganz andere. Der Fach- und Arbeitskräftemangel hält die Kinder- und Jugendhilfe fest im Würgegriff. Die Symptome sind allenthalben sichtbar. Öffnungszeiten von Kitas werden reduziert und Gruppen geschlossen. Die Wartelisten für ambulante Hilfen sind ewig lang. Mitarbeitende von Jugendämtern nehmen mangels anderweitiger Möglichkeiten unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu sich nach Hause. Die Jugendämter kämpfen landauf, landab mit massiver Arbeitsverdichtung und unbesetzten Stellen. Diese Auflistung ließe sich noch eine ganze Weile fortführen.
Die aktuellen Arbeitsmarktberichte geben an dieser Stelle wenig Grund zur Hoffnung. Berufe in der Kinderbetreuung und der Sozialpädagogik zählen weiterhin zu den Engpassberufen par excellence. Dies bedeutet, dass die Fachkräfte sich ihren Job aussuchen können. Sie wählen daher von vornherein Tätigkeitsfelder im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, die flexible Arbeitszeiten und -formen, gute Bezahlung und attraktive Aufgaben bieten. Oder sie wechseln aus anderen Bereichen dorthin. Auf der Strecke bleiben Dienste und Einrichtungen, die mit Schichtarbeit, Haftungsrisiken sowie rigideren Arbeitszeiten und -formen verbunden sind. Damit droht die Kinder- und Jugendhilfe gerade dort zu erodieren, wo sie vielleicht am dringendsten gebraucht wird – und zwar gerade auch aus Sicht des demokratischen Sozialstaats.
Verschärft wird die Situation naheliegender Weise durch die allgemeine demographische Entwicklung. In diesem Jahr feiern 1,4 Million Menschen ihren sechzigsten Geburtstag – aber nur 800.000 Menschen ihren zwanzigsten. Der Fach- und Arbeitskräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe wird sich daher nur noch weiter verschärfen. Dies gilt umso mehr, als es hier – im Unterschied zu anderen Bereichen – nur sehr eingeschränkt möglich sein wird, den Fach- und Arbeitskräfteverlust durch Digitalisierung und Automatisierung zu kompensieren. Denn bei den typischerweise personenbezogenen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sind der Rationalisierung natürliche Grenzen gesetzt. Dass diese Zusammenhänge im Übrigen auch zu einer immer weiteren Verteuerung der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe führen, sei an dieser Stelle unter Verweis auf die sogenannte baumolsche Kostenkrankheit nur am Rande erwähnt.
Reorientierung der Kinder- und Jugendhilfe unumgänglich
Welche Schlussfolgerungen sind zu ziehen, wenn die Wachstumsdynamik der Kinder- und Jugendhilfe in derart brutaler Form auf die empirische Tatsache eines sich vertiefenden Fach- und Arbeitskräftemangels trifft? Eines dürfte klar sein. Ein bräsiges Weiter-so, eine vordergründig kaschierte Vogel-Strauß-Politik hieße, die Errungenschaft des demokratischen Sozialstaats sehenden Auges preiszugeben und – ja – in gewisser Hinsicht auch zu verraten.
Zumindest einige Ansätze für eine Reorientierung der Kinder- und Jugendhilfe seien hier kurz angetippt.
Erstens: Bevor Bund und Länder neue Aufgaben oder gar neue Ansprüche im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe formulieren, braucht es stets eine ernsthafte Auswirkungsanalyse. Dabei muss insbesondere geprüft werden, welche Konsequenzen es insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Fach- und Arbeitskräftemangels für andere Bereiche hat, wenn personelle und natürlich auch finanzielle Ressourcen in die neue Aufgabe oder den neuen Anspruch fließen.
Zweitens: Anders als dies in früheren Zeiten das Mittel der Wahl war und heute vielfach immer noch als solches propagiert wird, lassen sich die aktuellen Herausforderungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe perspektivisch nicht einfach durch den Einsatz zusätzlichen Personals bewältigen. Denn die Personalressourcen werden sich zusehends verknappen. Insofern muss das Instrumentarium der Kinder- und Jugendhilfe reformiert werden, sodass mit jedenfalls perspektivisch tendenziell weniger Personal das bisherige Maß an Wirksamkeit zumindest erhalten werden kann. Um Effizienzen zu steigern, muss beispielsweise die Jugendhilfeplanung der Kreise für Dritte verbindlich gemacht und strukturellen Hilfen der Vorrang vor individuellen eingeräumt werden.
Drittens: Auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe werden wir angesichts des Fach- und Arbeitskräftemangels nicht alle Aufgaben wie bisher fortführen und nicht alle Standards wie bisher einhalten können. Dies ist eine ressourcenökonomische Gewissheit. Die – zugegebenermaßen rhetorische – Frage ist daher, ob sich die Einschränkung der Aufgabenerfüllung und die Reduktion von Standards als ungesteuerter tatsächlicher Prozess vollziehen soll, im Sinne einer unaufhaltsamen normativen Kraft des Faktischen. Oder ob über Aufgabenbegradigung und Standardanpassung in fachlich vorgespurten, demokratisch legitimierten Prozessen entschieden wird, was sich als Dialektik des demokratischen Sozialstaats beschreiben ließe.
Keine Fachaufsicht des Landes im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe
Abschließend sei noch auf ein landespolitisches Sonderthema eingegangen, das mit gewisser Regelmäßigkeit aufpoppt und die Landkreise in besonderer Weise betrifft. Es geht um die Frage, ob die Jugendhilfe weiterhin Selbstverwaltungsaufgabe bleiben oder aber dem Land Fachaufsicht über die Kreise eingeräumt werden soll.
Die Kinder- und Jugendhilfe gehört traditionell zum Hausgut der kommunalen Selbstverwaltung. Durch den Übergang der Fachaufsicht auf das Land würde die Jugendhilfe – verfassungsrechtlich gesehen – zu einer staatlichen Auftragsangelegenheit. Auch wegen der damit verbundenen Präzedenzwirkung käme der „Sozialstaat vor Ort“ damit gewaltig ins Rutschen – und dies obwohl das Konzept der kommunalen Daseinsvorsorge in Sonntagsreden hoch gelobt und auch international als Erfolgsfaktor angesehen wird.
Durch die Fachaufsicht würde auch das bisher partnerschaftliche Verhältnis zwischen Land und Kommunen grundlegend verändert. Die Kommunen würden stärker auf das Land schauen müssen. Dies würde die Innovationsbereitschaft, Lösungsorientierung und Flexibilität auf kommunaler Ebene zwangsläufig beeinträchtigen. Dies gilt umso mehr, als dann auch eine andere finanzverfassungsrechtliche Lage gegeben wäre. Die Kommunen müssten, schon um ihre konnexitätsrechtliche Position zu wahren, zuwarten, bis eine Weisung des Landes vorliegt. Denn nur dann könnten Mehrkosten problemlos geltend gemacht werden. Die Umwandlung der Jugendhilfe in eine Pflichtaufgaben nach Weisung würde daher strukturell einen Attentismus auf kommunaler Seite zur Folge haben, was nicht nur nicht sachgerecht, sondern in hohem Maße schädlich wäre.
Es bleibt daher zu hoffen, dass es auch bei künftigen Koalitionsverhandlungen zu keiner neuerlichen Diskussion über eine Fachaufsicht des Landes im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe kommt. Denn damit würde man dieser einen Bärendienst erweisen.