Die Landkreise sind in jüngerer Zeit verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Ausschlaggebend hierfür sind zum einen krisenbedingte Herausforderungen wie namentlich die Aufnahme der vielen Schutzsuchenden in den Jahren 2015/2016, die weltumspannende Corona-Pandemie oder aktuell die Versorgung der zahlreichen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Hier waren respektive sind die Landkreise in besonderem Maße als Krisenmanager gefordert und als solche im öffentlichen Bewusstsein präsent.
Zum anderen wird immer deutlicher, dass auch bei zentralen Zukunftsfragen – genannt seien hier die „drei großen D’s“: Dekarbonisierung, Demografie und Digitalisierung – speziell die Landkreise praktisch wirksame Antworten liefern können, liefern wollen und bereits liefern. Dies gilt – um nur einige Beispiele zu nennen – etwa für den Ausbau der nachhaltigen Mobilität durch einen attraktiven ÖPNV, die aktive Mitgestaltung sozialer und medizinischer Infrastrukturen vom Krankenhaus bis zum Quartier sowie für die konsequente Digitalisierung der Verwaltung, aber auch des Bildungswesens. Dass die Landkreise insoweit als buchstäbliche Zukunftsmacher mit hohem Engagement unterwegs sind, bleibt den Menschen nicht verborgen.
Spürbar gestärkte Rolle der Landkreise
In Baden-Württemberg kommt diese spürbar gestärkte Rolle der Landkreise nicht von ungefähr. Sie steht vielmehr in unmittelbarem Zusammenhang mit den Verwaltungsreformen der letzten 50 Jahre.
Den Ausgangspunkt bildet dabei die Kreisgebietsreform von 1973, deren Jubiläum Anlass für diesen Schwerpunkt unserer neu gestalteten „Landkreisnachrichten“ ist. Durch sie wurde die Zahl der Landkreise nahezu halbiert, lediglich drei der heute 35 Landkreise blieben weitgehend unverändert. Aufgrund der neuen, größeren und homogeneren Gebietszuschnitte war es möglich, Kreisaufgaben effizienter und auch professioneller zu erledigen. Ohne die dadurch gewonnene Verwaltungsstärke wäre beispielsweise der Ausbau des Krankenhauswesens oder des beruflichen Schulwesens nicht zu bewältigen gewesen.
Insofern schuf die Kreisgebietsreform zugleich auch die Basis für die darauf aufsetzenden Funktionalreformen: Eben weil die Leistungskraft der Landkreise substanziell zugenommen hatte, war es nur konsequent, bislang von selbstständigen Behörden wahrgenommene Aufgaben in die Zuständigkeit der Landratsämter zu verschieben. Den Auftakt machte 1995 das Sonderbehörden-Eingliederungsgesetz, mit der die Staatlichen Gesundheitsämter, die Staatlichen Veterinärämter und die Ämter für Wasserwirtschaft und Bodenschutz in die Landratsämter eingegliedert wurden. Den Höhepunkt markierte die „große“ Verwaltungsreform von 2005, im Zuge derer die verbliebenen unteren Sonderbehörden wie etwa die Staatlichen Gewerbeaufsichtsämter, die Straßenbauämter, die Staatlichen Forstämter oder die Vermessungsämter ihre Aufgaben auf die Landratsämter übertragen haben.
Wie zielführend es war, die Landkreise und Landratsämter durch intelligente Verwaltungsreformen zu stärken, sei an einem Beispiel pars pro toto verdeutlicht. So stelle man sich nur für einen Moment vor, wie die Situation ausgesehen hätte, wenn die Gesundheitsbehörden zu Hochzeiten von Corona als isolierte Sonderbehörden hätten agieren müssen. Es wäre mit Sicherheit zu unhaltbaren Zuständen gekommen. Denn die multiplen Herausforderungen – von der Kontaktnachverfolgung über die Anordnung von Schutzmaßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz bis hin zur Beschaffung von Persönlicher Schutzausrüstung (PSA) – konnten nur gemeistert werden, weil die Landratsämter ihre geballte Verwaltungskraft und ihre unterschiedlichen Fachlichkeiten, vom Katastrophenschutz bis hin zu den Veterinärmedizinern, in den Dienst ihrer Gesundheitsämter gestellt haben.
Neuerliche Verwaltungsreformen als Gretchenfrage?
Nun ist freilich nichts so gut, als dass es sich nicht noch verbessern ließe. Le mieux est l’ennemi du bien - das Bessere ist der Feind des Guten, lehrt der Aufklärungsphilosoph Voltaire. Gerade auch mit Blick auf die guten Erfahrungen in Baden-Württemberg liegt die Gretchenfrage daher mehr als nahe, ob es denn nicht hier und jetzt neuerlicher Verwaltungsreformen bedarf – 50 Jahre nach der zu Recht gefeierten Kreisgebietsreform und bald zwei beziehungsweise drei Jahrzehnte nach den erfolgreichen Funktionalreformen unter Ministerpräsident Erwin Teufel.
Doch so berechtigt diese Frage auch ist, so klar ist sie zu verneinen. Denn die klassischen Spielarten von Verwaltungsreform helfen angesichts des tiefgreifenden Strukturproblems, vor dem die Landkreise und mit ihnen die gesamte kommunale Familie aktuell stehen, definitiv nicht weiter.
Gemeint ist die ebenso reelle wie beunruhigende Überforderungstendenz, die daraus erwächst, dass auf den übergeordneten Staatsebenen seit Jahren ständig neue, von den Kommunen umzusetzende Aufgaben und Standards definiert werden, obwohl es vor Ort für jeden erkennbar an den hierfür erforderlichen Fach- und Arbeitskräften fehlt. Von der Finanzierbarkeit dieser immer neuen Aufgaben und Standards ganz zu schweigen.
Dieses in hohem Maße alarmierende Strukturproblem ließe sich weder durch eine erneute Territorial- noch durch eine weitere Funktionalreform bewältigen. Schließlich bliebe es auch dann dabei, dass der permanente Aufgaben- und Standardzuwachs die Leistungsfähigkeit öffentlicher Verwaltung allein schon wegen des massiven Fach- und Arbeitskräftemangels über kurz oder lang überspannen würde, mithin die Schere zwischen normativ zu Leistendem und faktisch Leistbaren immer wieder auseinanderginge.
Ohnehin spräche gegen eine erneute Kreisgebietsreform die damit verbundene Schwächung bürgerschaftlicher Demokratie. Im Fall etwa einer Regionalkreisbildung käme erschwerend noch hinzu, dass die Effizienzverluste als Folge deutlich geringerer Orts- und Bevölkerungsnähe die Effizienzgewinne aufgrund von Größeneffekten klar übertreffen würden: Aufgrund der krisenbedingt zunehmenden Bedeutung lageangepassten Verwaltungshandelns werden Orts- und Bevölkerungsnähe auch unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungseffizienz immer wichtiger; demgegenüber flachen die Skaleneffekte ab der von den baden-württembergischen Landkreisen durchweg erreichten Gebietsgröße deutlich ab.
Funktionalreformen wiederum sollte man zwar nie ausschließen. So bleibt die Ausgliederung der Schulämter aus den Landratsämtern allein schon wegen der immer bedeutsamer werdenden Schnittstellen zur Jugendhilfe ein grandioser Fehler, für den aktuell teuer bezahlt wird. Ungeachtet dessen bleibt festzuhalten, dass bloße Zuständigkeitswechsel – und seien sie fachlich noch so sinnvoll – das strukturelle Kernproblem von immer mehr kommunalen Aufgaben bei immer schwierigerer Personalakquise weiter ungelöst lassen.
Aufgaben- und Standardkritik als Gebot der Stunde
Daher geht es aktuell nicht um Verwaltungsreformen gleich welchen Typs, sondern vielmehr darum, verzichtbare Aufgaben sowie entbehrliche Standards systematisch abzubauen und alle irgend möglichen Verfahrensvereinfachungen mutig zu realisieren. Legislative Entfesselungspakete, die die zunehmende Kluft zwischen hypertroph wachsendem Aufgabenbestand und limitierten Personalressourcen substanziell verringern, sind heute ebenso wichtig wie zu Beginn der siebziger Jahre die Kreisgebietsreform.
Die herausfordernden Probleme der Gegenwart sollten uns freilich nicht davon abhalten, die Errungenschaften der Vergangenheit zu würdigen. Dies gilt umso mehr, als der Rückblick auf 50 Jahre Kreisreform, den wir mit dem diesem Schwerpunkt leisten wollen, eindrücklich bestätigt, was der frühere Bundespräsidenten Johannes Rau einmal treffend so formuliert hat: „Wenn es die Landkreise nicht gäbe, müsste man sie erfinden! Nur wenige Schöpfungen der Verwaltungskunst haben sich so glänzend bewährt.“