Seit einem halben Jahrhundert geht die Zahl der Geburten zurück. Der ebenso einprägsame wie wissenschaftlich unzutreffende Begriff des „Pillenknicks“ hat vor Jahrzehnten schon Eingang in den Alltagswortschatz gefunden. Dennoch scheint die Überraschung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft immer wieder groß zu sein, wenn sich schon lange angelegte, statistisch bestens belegte demografische Entwicklungen in dem einen oder anderen Lebensbereich plötzlich krisenhaft zuspitzen. So verhält es sich ein Stück weit auch beim Fach- und Arbeitskräftemangel, der schon jetzt einen besorgniserregenden Umfang angenommen hat und sich in den kommenden Jahren massiv verschärfen wird.
Die Konsequenzen einer alternden Gesellschaft auf den Arbeitsmarkt sind in den zurückliegenden Jahren immer wieder erfolgreich verdrängt worden. Dafür gibt es vielfältige Ursachen. So mag zuletzt auch die Pandemiezeit dazu beigetragen haben. Ein Wissens- oder Erkenntnisdefizit allerdings war definitiv nicht dafür verantwortlich, dass es insoweit an der – neudeutsch – politischen „awareness“ gefehlt hat. Denn dass die bevölkerungsstärksten Jahrgänge, die Babyboomer, bis etwa zum Jahr 2030 in den Ruhestand treten werden, war hinlänglich bekannt. Und dass wir in Baden-Württemberg in den nächsten fünfzehn Jahren allein durch die geringere Zahl an Geburten ein Minus von knapp 800.000 Arbeitskräften haben werden, konnte jeder wissen, der die Geburten der in dieser Zeit in den Ruhestand tretenden Jahrgänge 1957 bis 1972 mit denen der ins Erwerbsleben eintretenden Jahrgänge 2000 bis 2015 abgleicht.
Sinnhaftigkeit der beruflichen Tätigkeit als Attraktivitätsmerkmal
Nun aber sind wir mit einem sich krisenhaft zuspitzenden Fach- und Arbeitskräftemangel konfrontiert. Und folgerichtig lassen auch die baden-württembergischen Landratsämter nichts unversucht, um sich strategisch und operativ als attraktive Arbeitgeber zu positionieren. Im Wettbewerb um kluge Köpfe und tatkräftige Hände können sie dabei eine Reihe von Trümpfen ausspielen. Dazu zählt sicherlich die Jobsicherheit, die in Zeiten wie diesen wieder höher im Kurs steht. Auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gehört dazu.
Noch wichtiger freilich ist, dass den jungen, aber auch vielen älteren Menschen die Sinnhaftigkeit ihres beruflichen Engagements immer wichtiger wird und ihnen manchmal sogar mehr Wert ist, als der eine oder andere zusätzliche Euro auf dem Gehaltskonto. Diesen Menschen mit ihrer starken intrinsischen Motivation, dem Gemeinwohl dienen und eine gelingende Zukunft aktiv mitgestalten zu wollen, bieten die Landkreise erstklassige Betätigungsfelder: von der Genehmigung von Windkraftanlagen über die Unterstützung hilfebedürftiger Kinder und Jugendlicher bis hin zur Digitalisierung von Schulen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Sinnhaftigkeit und Werthaltigkeit der beruflichen Tätigkeit – dies gehört zweifellos zum Kernbestand des Employer Branding, der Arbeitgebermarke aller Landkreise in Baden-Württemberg. Und das ist ein Pfund, mit dem sich am umkämpften Arbeitsmarkt wuchern lässt.
In diesem Schwerpunkt der Landkreisnachrichten berichten etliche Landkreise von den unterschiedlichsten Ansätzen und Maßnahmen, die sie hausintern auf den Weg gebracht haben, um Fach- und Arbeitskräfte für eine Arbeit im Landratsamt zu gewinnen und das bereits vorhandene Personal wirksam an das Haus zu binden. Allen, die das Thema Fach- und Arbeitskräftemangel speziell auch in der öffentlichen Verwaltung umtreibt, kann die Lektüre dieser Beiträge nur wärmstens empfohlen werden – und zwar sowohl in punkto strategische Durchdringung als auch im Hinblick auf die Differenziertheit der operativen Herangehensweisen.
Auch die Gremien des Landkreistags haben sich zuletzt nochmals intensiv mit der Attraktivierung des öffentlichen Dienstes beschäftigt. Die dort angestellten Überlegungen zu Personalgewinnung, -bindung und -entwicklung haben Eingang gefunden in ein Positionspapier, das auf der Homepage des Landkreistags einsehbar ist. Darin werden auch klare Erwartungen in Richtung der Landespolitik formuliert. Es geht um auf den ersten Blick sehr technisch anmutende, in der Konsequenz aber überaus wirkungsvolle Maßnahmen wie beispielsweise die Einführung von Personalgewinnungs- und -bindungsprämien im Landesbeamtenrecht, die Ermöglichung sogenannter Fachkarrieren in den Landratsämtern, Anreize zur Übernahme von Führungspositionen, die Durchlässigkeit des gehobenen in den höheren Dienst ohne Dienstherrenwechsel in den durch die Funktionalreformen eingegliederten Fachbereichen der Landratsämter sowie bessere Besoldungsmöglichkeiten für kreiskommunale Führungskräfte.
„Legislative Überschuldung“ als Showstopper
Allerdings ist spätestens hier ein weithin sichtbares Gefahrenschild aufzustellen. All die Maßnahmen, die von den Landratsämtern heute schon erfolgreich umgesetzt werden, um Personal zu gewinnen, zu halten und zu entwickeln, und auch die berechtigten Anliegen, die der Landkreistag zur Attraktivierung des öffentlichen Dienstes gegenüber der Landespolitik geltend macht – sie dürfen eines auf keinen Fall. Sie dürfen keinesfalls den Eindruck erwecken, als ob sich allein hierdurch das demografisch bedingte Problem des Fach- und Arbeitskräftemangels im öffentlichen Dienst und darüber hinaus auch nur ansatzweise lösen ließe. Es muss dringend davor gewarnt werden, einmal mehr die demografische Entwicklung kontrafaktisch zu vernachlässigen. Hier sollten wir aus Schaden klüger geworden sein.
Denn es ist doch jetzt schon so, dass die Personalressourcen in Staat und Wirtschaft nicht ausreichen, um die vor uns liegenden gewaltigen Transformationsaufgaben – von der Klimaanpassung über den Auf- bzw. Umbau unserer technischen wie auch sozialen Infrastrukturen bis hin zur Digitalisierung aller Sektoren – in der notwendigen Geschwindigkeit und dann auch noch zeitgleich zu bewältigen. Dies ist innerhalb des bestehenden rechtlichen Framework, angesichts eines sich hydrahaft verhaltenden Regulierungsdickichts, mit den aktuell verfügbaren Personalkörpern einfach nicht zu stemmen. Mit der fortschreitenden Zurruhesetzung der Babyboomer wird die Lage nur noch angespannter.
Bei nüchterner Betrachtung gibt es mit Blick auf die Lage, in der wir sind, nur einen tauglichen Lösungsansatz, um die Transformationsfähigkeit von Staat und Wirtschaft zu erhalten: Das gesetzliche Regelwerk muss durch Aufgabenkritik und den Abbau von Regulierung systematisch und konsequent so weit zurückgestutzt werden, dass die Transformationsaufgaben wieder hinreichend effizient gesteuert und umgesetzt werden können – und zwar mit den vorhandenen und perspektivisch weniger werdenden Personalressourcen.
Professor Wolfgang Schön vom Münchner Max-Planck-Institut für Steuerrecht und öffentliche Finanzen hat das aktuelle Dilemma in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung treffend beschrieben. Er spricht von einer „legislativen Überschuldung“, einem „Regulierungsbankrott“ und meint damit, dass die SOLL-Seite, also der schier undurchdringliche Normendschungel aus Gesetzen, Vorschriften und Richtlinien, auf der HABEN-Seite, nämlich durch das zur Normerfüllung erforderliche Personal in Verwaltung und Wirtschaft, schon längst nicht mehr ausgeglichen wird. Dass Ministerpräsident Kretschmann diesen Beitrag von Professor Schön unlängst in der Enquête-Kommission „Krisenfeste Gesellschaft“ zur Illustration seiner Ausführungen herangezogen und damit gewissermaßen regierungsamtlich gutgeheißen hat, lässt hoffen, dass wir bei der Aufgabenpriorisierung und der Standardkritik hier im Land endlich die disruptiven Schritte vorwärts gehen, derer es so dringend bedarf und die schlichtweg überfällig sind.
Ein öffentlicher Dienst, der in der Normenflut versinkt, ist nicht nur nicht länger attraktiv, sondern wird à la longue auch seinen Daseinszweck zunehmend verfehlen, nämlich die staatlichen Aufgaben unter gleichmäßiger Wahrung der demokratisch beschlossenen Gesetze zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger zu erfüllen. Insofern geht es bei alldem auch um die Zukunft unseres demokratischen und sozialen Rechtsstaats.