Weder die europäische Einigung noch die kommunale Selbstverwaltung gehörten zu den großen Streitfragen, mit denen die nur vier Mütter und 61 Väter des Grundgesetzes von September 1948 bis zu ihrer letzten Sitzung am 23. Mai 1949 befasst waren. Strittig war im Parlamentarischen Rat unter dem Vorsitz des späteren Bundeskanzlers Konrad Adenauer anderes. Gerungen wurde beispielsweise um die Gleichberechtigung von Mann und Frau, nicht dem Grunde, aber der Tragweite nach, um den Gottesbezug in der Präambel, die sog. „Invocatio Dei“, um das Wahlrecht, nämlich Mehrheits- oder Verhältniswahl, und um die Ausgestaltung der zweiten Kammer als Senat oder Bundesrat. Besonders intensiv waren die Auseinandersetzungen um die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, um das Verhältnis von Elternrecht einerseits, staatlichem Bildungs- und Erziehungsauftrag andererseits, sowie nicht zuletzt – wie könnte es anders sein – um die Finanzverteilung.
„… als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa …“
Sowohl das Bekenntnis zu Europa als auch das zur kommunalen Selbstverwaltung hat erst mit gewisser Verzögerung Eingang in die Debatten um die westdeutsche Nachkriegsverfassung gefunden. Im Chiemseer Entwurf etwa, der vom „Verfassungsausschuß der Ministerpräsidenten-Konferenz der westdeutschen Besatzungszonen“ als Arbeitsgrundlage für das Grundgesetz erarbeitet worden war, fanden sich in der Präambel und den nicht weniger als 149 Artikeln noch keine entsprechenden Passagen. Das Staatsziel eines vereinten Europas und die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung sind erst im Laufe der Arbeiten des Parlamentarischen Rats in mehreren Formulierungsschleifen zu ihrer endgültigen Fassung gereift.
Bei der Lektüre der Debattenverläufe fällt in beiden Fällen zweierlei auf. Erstens sind die finalen Textfassungen zu Europa und zur kommunalen Selbstverwaltung deutlich dezidierter und auch emphatischer als die ersten Entwürfe. Beispielhaft veranschaulichen lässt sich dies an der Staatszielbestimmung Europa in der Präambel. In einer der ersten Fassungen hieß es noch: „… in der Erwartung, dass das geeinte Deutschland zum Wohle der Menschheit in einem vereinten Europa als gleichberechtigtes Glied mitwirken wird“. Dieser Formulierung ist einer der fünf Vertreter des Landes Württemberg-Baden, der nachmalige Bundespräsident Theodor Heuss, im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rats mit der Kritik entgegentreten, dass dies so klinge: „Wir wollen einmal abwarten, was daraus wird, vielleicht machen unser Nachfahren das.“ Die bis heute in der Grundgesetz-Präambel zu findende Verpflichtung Deutschlands auf die europäische Integration hat denn auch einen ganz anderen Sound: „… von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen …“.
„… Gemeinden in ganz anderer Weise als bisher zu allgemeinen Trägern der ersten Stufe der Obrigkeit zu machen …“
Zweitens waren die Mitglieder des Parlamentarischen Rats sowohl im Fall der Staatszielbestimmung Europa als auch bei der Garantie der Selbstverwaltung sehr entschieden, hier weit mehr noch als bei anderen Verfassungsentscheidungen auf einen politischen Neuanfang zu setzen. Es wurde ein Bruch nicht nur mit dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat vollzogen, sondern auch mit noch weiter zurückliegenden staatlichen Traditionen. Für die Selbstverwaltungsgarantie lässt sich dies exemplarisch an einem Zitat deutlich machen, das von einem der beiden Vertreter des Landes Württemberg-Hohenzollern stammt, nämlich vom Vorsitzenden des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rats Carlo Schmid: „Wir müssen überhaupt dazu kommen, die Gemeinden in ganz anderer Weise als bisher zu allgemeinen Trägern der ersten Stufe der Obrigkeit zu machen.“
Der Rückblick auf die Entstehungsgeschichte macht deutlich, dass sowohl das Staatsziel eines vereinten Europas wie auch das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden, Städte und Landkreise zu den von Beginn an unstreitigen, nachdrücklich hervorgehobenen und zugleich in besonderem Maße originären Kernelementen des Grundgesetzes gehören. Wenn das Grundgesetz daher in den letzten 75 Jahren zum vielzitierten Erfolgsmodell geworden ist, dann dürfte dies nicht zuletzt mit diesen beiden Verbürgungen und der entsprechenden Verfassungswirklichkeit zusammenhängen.
So aktuell wie vor 75 Jahren
Das Grundgesetz setzt nach allem auf ein starkes Europa wie es auf starke Kommunen setzt. Unsere Verfassung ist damit heute genau so aktuell wie vor 75 Jahren. Wie wichtig ein starkes, geeintes Europa ist, zeigt sich in der Zeitenwende, die der völkerrechtswidrige Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine markiert. Die Europäische Union hat hier ebenso entschlossen wie geschlossen reagiert. Durch finanzschwere Hilfspakete für die Ukraine und massive Sanktionen gegen Russland hat die Europäische Union eine Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt, die mancher ihr so nicht oder nicht mehr zugetraut hätte.
Auch starke Kommunen braucht es mehr denn je. Denn allein schon die grundstürzenden Veränderungen, die mit den „drei großen D“ – Demografie, Digitalisierung und Dekarbonisierung – einhergehen, müssen zu einem beträchtlichen Teil auf der Ebene der Landkreise, Städte und Gemeinden aufgegriffen und bewältigt werden. Denn niemandem anderen als den Kommunen obliegt es, um nur einige Beispiele zu nennen, die Krankenhausversorgung auch bei steigender Krankheitslast sicherzustellen, trotz eines hypertrophen Datenschutzes die Behördengänge zu digitalisieren oder kurzfristig Wärmenetze auszurollen.
Ein starkes Mandat für ein starkes Europa und starke Kommunen
Eine starke Europäische Union und starke Kommunen benötigen neben manchem anderen ein starkes Mandat ihrer Bürgerinnen und Bürger. Jede und jeder ist daher aufgerufen, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten dazu beizutragen, dass am 9. Juni eine möglichst hohe Wahlbeteiligung erreicht wird. Die Wahlbeteiligung wird zurecht als Indikator dafür gewertet, wie gesund eine Demokratie ist. Gerade in krisenhaften Zeiten wie den gegenwärtigen wäre es beruhigend, wenn unserer Demokratie ein guter Gesundheitszustand attestiert werden könnte.
Daher muss es auch gelingen, die antidemokratischen Kräfte sowohl bei den Europa- als auch bei den Kommunalwahlen in Schach zu halten. Wer demokratische Verständigungsprozesse auf europäischer und kommunaler Ebene verächtlich macht, wer durch rassistisches Denken und Handeln den sozialen Zusammenhalt gefährdet, wer aufgrund seiner diffusen Freund-Feind-Ideologie blind ist für den Kompromiss als Wesen der grundgesetzlichen Demokratie – der sollte es weder in das Europäische Parlament noch in die kommunalen Volksvertretungen schaffen.
Für ein starkes Europa und starke Kommunen braucht es überzeugte Demokratinnen und Demokraten!