Editorial

Bürgerschaftliches Engagement – Motor des sozialen Zusammenhalts und einer lebendigen Demokratie

Warum ist bürgerschaftliches Engagement heute so zentral wichtig? Weshalb haben auch Landkreise allen Grund, bürgerschaftliches Engagement zu stützen und zu fördern? Und wie können sie dies tun? Mit diesen Schlüsselfragen beschäftigt sich die letzte Schwerpunktausgabe der Landkreisnachrichten in diesem ausgehenden Jahr 2025.
Prof. Dr. Alexis von Komorowski · Landkreistag Baden-Württemberg · 12. Dezember 2025
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Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, zivilgesellschaftliches Engagement – es gibt unterschiedlichste Bezeichnungen. Gemeint ist aber letztlich immer dasselbe. Menschen werden, ohne dazu von Berufs wegen, familiär oder sonst wie verpflichtet zu sein, im und für das Gemeinwesen aktiv, und zwar unentgeltlich. Die Betätigungsfelder bürgerschaftlich Engagierter können dabei ganz unterschiedliche sein. Zu nennen sind namentlich die Bereiche Soziales, Sport, Kultur, Umwelt, Bildung, Kirche. Oder um es konkret zu machen: die tatkräftige Mitarbeit im Tafelladen oder in der Nachbarschaftshilfe, beim Training auf dem Fußballplatz oder beim Basketballsummercamp, im Jugendtheater oder im Synagogenverein, bei der Biotoppflege oder der Amphibienrettung, in der Hausaufgabenhilfe oder als Digitalcoach für Seniorinnen und Senioren, in der Jungschar oder im Kirchengemeinderat. Baden-Württemberg ist dabei traditionell besonders stark im bürgerschaftlichen Engagement. Eine Engagementquote von 40 Prozent und deutlich mehr als 80.000 Vereine sprechen für sich. Und natürlich gilt es, diese im Bundesländervergleich herausragend gute Struktur zu hegen und pflegen.
 

Bürgerschaftliches Engagement – so wichtig wie nie

Denn in der Tat: Bürgerschaftliches Engagement ist heute wichtiger denn je. Und dies aus mindestens zwei Gründen. Erstens – der soziale Zusammenhalt: Der unaufhaltsame Prozess der Individualisierung bedeutet nicht nur mehr Autonomie und Freiheit für uns alle. Er führt zugleich dazu, dass sich traditionelle soziale Milieus zunehmend auflösen, familiäre Lebensformen einem tiefgreifenden Wandel unterworfen sind, nachbarschaftliche Kontexte sich grundlegend verändern und nicht zuletzt die Ausdifferenzierung und zunehmende Virtualisierung der Arbeitswelt immer weiter voranschreitet. All dies hat zur Folge, dass bisherige und in früheren Zeiten als selbstverständlich erlebte Anlässe, Orte und Räume sozialer Begegnung verloren gehen. Und genau hier wirkt bürgerschaftliches Engagement kleine soziale Wunder. Denn es bringt Menschen zusammen, die anders nicht zusammengekommen wären. Es schafft Zu- und Vertrauen untereinander, lädt dazu ein, einen gemeinsamen Blick auf die Dinge zu entwickeln, und schafft damit nicht weniger als sozialen Zusammenhalt.

Zweitens – die Demokratie: Unsere besondere Staats- und Regierungsform der Demokratie beruht nicht allein auf regelmäßig stattfindenden Wahlen und einer rechtsstaatlich einwandfreien Ausübung der auf diese Weise legitimierten Staatsgewalt. Sie ist wesensmäßig darauf angewiesen, dass Bürgerinnen und Bürger Anteil nehmen am politischen Geschehen, mosaikartig eine demokratische Öffentlichkeit begründen, um den Wert von Kompromiss und Toleranz als notwendigen Bedingungen demokratischer Entscheidungsfindung wissen und deswegen auch bereit sind, sich dem sanften Zwang des besseren Arguments auszusetzen. Bürgerschaftliches Engagement wiederum zahlt in ganz herausragender Weise auf diese demokratischen Tugenden ein. Wer sich bürgerschaftlich engagiert, nimmt Anteil an dem, was Gemeinde und Staat, was die Polis angeht. Und weil dies typischerweise gemeinsam mit anderen Menschen geschieht, entsteht hier just jene demokratische Normalität, auf die unser Staatswesen heute mehr denn je angewiesen ist. Eine demokratische Normalität, in der nicht jeder einfach vor sich hin privatisiert, in der Konsens nicht diffamiert, sondern gesucht wird, und in der das vernünftige Argument mehr zählt als die populistische Absonderung. Zugleich und vor allem erfahren bürgerschaftlich Engagierte Selbstwirksamkeit. Und ist nicht Selbstwirksamkeit das große Versprechen der Demokratie?    
 

Landkreise fördern bürgerschaftliches Engagement – aus gutem Grund

Wie die anderen kommunalen Gebietskörperschaften auch stehen die Landkreise vor immensen Herausforderungen. Zu nennen sind hier insbesondere der präzedenzlöse Absturz der Kommunalfinanzen, der unaufhaltsam voranschreitende demografische Wandel, die tiefgreifende Krise der deutschen Wirtschaft und die massiven Klimaveränderungen. Angesichts des schieren Ausmaßes dieser Herausforderungen mag sich die spontane Frage aufdrängen, ob es sich angesichts dieser dramatischen Gesamtsituation überhaupt ziemt, dem Thema bürgerschaftliches Engagement so viel Raum zu geben, wie wir dies in der vorliegenden Schwerpunktausgabe der Landkreisnachrichten tun.

Wir haben diese Frage, wie Sie sehen, mit „Ja, unbedingt“ beantwortet. Ausschlaggebend dafür war zunächst und eher grundsätzlich die folgende Erwägung: Bürgerschaftliches Engagement sensibilisiert dafür, dass der demokratische Staat – trotz seiner unzweifelhaften und nicht hinwegzudenkenden Sicherungsfunktion – seinem Wesen nach kein bloßer Dienstleister, kein Internetshop und erst recht kein Selbstbedienungsladen, sondern im Kern ein Mitmachstaat ist. Und gerade auf diese Einsicht und Haltung wird es ankommen, wenn auf Kreisebene wie andernorts die skizzierten Mega-Herausforderungen bewältigt werden sollen. Denn dies wird nur in einem gemeinsamen, im wahrsten Sinne des Wortes verantwortungsvollen Kraftakt möglich sein. Und dies setzt nun einmal eine entsprechende Einsicht und Haltung voraus.

Aber es lässt sich natürlich auch noch konkreter fassen, weshalb Landkreise allen Grund haben, bürgerschaftliches Engagement zu stützen und zu fördern. Nehmen wir das Thema Finanzen und demografischer Wandel. Beides bringt den Sozialstaat und damit auch die Landkreise als Gesicht des Sozialstaats vor Ort unter immensen Druck. Hier wird das bürgerschaftliche Engagement die Grundproblematik zwar gewiss nicht auflösen. Es kann aber wertvolle Beiträge leisten. Dies gilt etwa im Zuge von Quartiers- und Dorfentwicklungen, die darauf ausgerichtet sind, in Koproduktion von professionellen und ehrenamtlichen Kräften eine „sorgende“, eine „solidarische“ Gemeinschaft entstehen zu lassen. Wenn nämlich in der Folge ältere Menschen länger in der eigenen Häuslichkeit leben bleiben können, junge Menschen behütet aufwachsen, Menschen mit Behinderungen Inklusion erleben, dann bedeutet dies nicht nur ein Mehr an Lebensqualität. Dadurch kann – wenn es klug aufgegleist ist – auch das Sozialbudget des Landkreises entlastet werden.

Die Liste konkreter Beispiele ließe sich fortsetzen: Wenn Bürgerbusse fahren, Patientinnen und Patienten im Kreiskrankenhaus von Freiwilligen besucht werden, touristisch attraktive Denkmäler im Landkreis durch Ehrenamtliche offen gehalten werden, Kulturveranstaltungen von bürgerschaftlich Engagierten mit großer Leidenschaft organisiert werden, dann erhöht dies automatisch die Lebensqualität im Kreis und stiftet überdies Kreisidentität.
 

Engagementstrategien der Landkreise

Was können Landkreise – zumal in Zeiten knapper Kassen – tun, um bürgerschaftliches Engagement zu stärken und zu fördern. Wichtig sind zunächst und zuvörderst klare, transparente und gut kommunizierte Strukturen und Zuständigkeiten. Denn bürgerschaftlich Engagierte brauchen klare Orientierung und niedrigschwellige Information. Wenn ich mich in meiner Freizeit engagiere, will ich nicht lange suchen müssen, wenn ich etwas brauche.

Ein besonderer Schwerpunkt sollte ferner auf die Qualifizierung und Weiterbildung gelegt werden. Denn dadurch werden Ehrenamtsstrukturen stabilisiert und Nachhaltigkeit erzeugt. Hier kann mit relativ kleinem Geld viel Wirksamkeit erreicht werden. Ein wunderbares Beispiel dafür ist das Peer-Mentoring.

Und natürlich ist auch die Digitalisierung nicht am bürgerschaftlichen Engagement vorbeigegangen, so dass hier ebenfalls ein bedeutsames Handlungsfeld für die Landkreise existiert. Dabei muss, wenn von Digitalisierung des bürgerschaftlichen Engagements die Rede ist, zwischen zwei Ausprägungen unterschieden werden. Dies ist eine der vielen Erkenntnisse der Reichenauer Tage zur Bürgergesellschaft, die mit Unterstützung des Sozialministeriums alljährlich vom Landkreistag als „Hochamt“ des bürgerschaftlichen Engagements veranstaltet werden und im Jahr 2022 unter dem Motto „Engagement im digitalen Wandel“ stand.

Digitalisierung der bürgerschaftlichen Engagements bedeutet zum einen die digitale Unterstützung des bürgerschaftlichen Engagements. Dazu gehört, dass man sich digitale Formate zu Nutze macht, um über bürgerschaftliches Engagement zu informieren – Stichwort: Newsletter, Website –, um den Austausch zwischen Engagierten und Organisationen zu fördern – Stichwort: Chats, soziale Netzwerke – und um potenziell Engagierte mit einer vorhandenen Freiwilligenarbeit in Verbindung zu bringen, neudeutsch: zu matchen – Stichwort: Vermittlungsbörsen.

Von dieser digitalen Unterstützung des bürgerschaftlichen Engagements zu trennen, ist das digitale bürgerschaftliche Engagement. Die Digitalisierung ist hier kein Hilfsmittel, sondern das bürgerschaftliche Engagement wird in digitaler Form ausgeübt. Das ist etwa der Fall, wenn im Zuge ehrenamtlicher Seniorinnen- und Seniorenarbeit auf Online-Karten öffentlich zugängliche Toiletten markiert werden oder wenn eine Online-Unterstützung beim Ausfüllen von Formularen angeboten wird.

Resümierend bleibt, nochmals in aller Nachdrücklichkeit den großen Wert des bürgerschaftlichen Engagements zu unterstreichen. Die Förderung und Unterstützung des bürgerschaftlichen Engagements aus öffentlichen Kassen ist daher alles andere als ein nice to have. Wer dies behauptet, verkennt, dass das bürgerschaftliche Engagement als Motor des sozialen Zusammenhalts und einer lebendigen Demokratie unverzichtbar ist. Oder um es mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu formulieren: „Demokratie entsteht aus dem, was wir daraus machen. Sie lebt durch uns: durch Beteiligung, durch Einsatz, durch Miteinander.“ 

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Zum Jahresende

Einer schönen Tradition folgend will ich mich zum Jahresende – auch im Namen des Präsidenten des Landkreistags Baden-Württemberg, Landrat Dr. Achim Brötel – bei den Landratsämtern, Kreiseinrichtungen sowie allen unseren Partnerinnen und Partnern in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft für die auch in 2025 einmal mehr ertragreiche Zusammenarbeit und das gute Miteinander bedanken. Vieles konnte nur deshalb gelingen, weil es in engem Schulterschluss angegangen wurde und bei der Umsetzung Hand in Hand gegriffen hat. Gerade auch daran wollen wir im kommenden Jahr nahtlos anknüpfen.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich noch eine beschauliche Adventszeit, ein frohes, gesegnetes Weihnachtsfest und alles Gute für ein friedvolleres, glückliches Jahr 2026.

Prof. Dr. Alexis von Komorowski ist Hauptgeschäftsführer des Landkreistags Baden-Württemberg
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