Editorial

Von der Wiege bis zur Bahre – Formulare, Formulare

Die Forderung nach einer konsequenten Entbürokratisierung der Verwaltung ist zum politischen Allgemeinplatz geworden. Allerdings geht sie häufig einher mit dem faustschen Stoßseufzer: „Die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Die Landkreisnachrichten wollen hier bewusst einen Kontrapunkt setzen und werden daher ab dieser Schwerpunktausgabe in einer eigens dafür geschaffenen Rubrik regelmäßig Good Practices der Verwaltungsinnovation vorstellen. Denn es gibt in den baden-württembergischen Landkreisverwaltungen eine Vielzahl innovativer Projekte, Maßnahmen und Initiativen, durch die etwa administrative Abläufe effizienter organisiert, die Zufriedenheit von Mitarbeitenden gesteigert oder Digitalität gezielt vorangebracht wird. All dies zahlt in ganz praktischer und greifbarer Weise auf das zurecht ausgerufene Entbürokratisierungsziel ein.
Prof. Dr. Alexis von Komorowski · Landkreistag Baden-Württemberg · 04. Juli 2025
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Wer den jüngst auf Bundesebene geschlossenen Koalitionsvertrag sorgfältig studiert, wird an die hundert Mal auf Formulierungen stoßen, in denen der Rückbau von Bürokratie in Aussicht gestellt, hier und dort eine unbürokratischere Verfahrensweise versprochen oder die Befreiung konkreter bürokratischer Hemmnisse zugesagt wird. Dies ist gut und richtig – zumal dann, wenn all dies nun rasch, konsequent und vollzugsnah umgesetzt wird. Denn die Belastung durch ausufernde Bürokratie wird inzwischen deutschlandweit als eines der größten Handicaps empfunden. Dies gilt übrigens nicht nur aus Sicht der Wirtschaft sowie der Bürgerinnen und Bürger. Auch Behördenmitarbeitende leiden unter dem bürokratischen Overload und artikulieren dies in einschlägigen Umfragen klar und unmissverständlich.
 

Unentrinnbarkeit der Bürokratie

Nun sollte freilich, wer aus – wie gesagt – gutem Grund der Entbürokratisierung das Wort führt, es an der nötigen Differenziertheit nicht fehlen lassen. Dazu gehört zunächst die Einsicht, dass die Bürokratie als solche gekommen ist, um zu bleiben. Max Weber hat dies bereits 1918 folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Die Bürokratie ist gegenüber anderen geschichtlichen Trägern der modernen rationalen Lebensordnung ausgezeichnet durch ihre weit größere Unentrinnbarkeit.“ Und er fährt fort, dass kein geschichtliches Beispiel dafür bekannt sei, dass eine vollendete Bürokratie wieder verschwunden wäre – „außer mit dem völligen Untergang der ganzen Kultur, die sie trug".

Diese Unentrinnbarkeit der Bürokratie ist per se auch alles andere als ein Problem. Denn die Bürokratie als solche, als kulturprägende Institution, hat ihren ganz eigenen Wert. Wenn behördliche Entscheidungen in einem standardisierten Prozess von dafür zuständigen Instanzen unter Beachtung von Recht und Gesetz getroffen und vollzogen werden, dann bedeutet dies zunächst und zuvörderst Stabilität und Vorhersehbarkeit, Effizienz und Rationalität. Welche Folgen es nicht bloß für die Bürgerinnen und Bürger, sondern namentlich auch für die Wirtschaft hat, wenn es an einer in diesem positiven Sinne funktionierenden Bürokratie mangelt, lässt sich in manch anderem Land dieser Welt besichtigen. Kleiner Spoiler: Auch diejenigen, die Deutschland als vom Bürokratie-Wahnsinn erfasst ansehen und daran schier verzweifeln, dürften plötzlich sogar dem von ihnen heftig kritisierten deutschen Verwaltungsbarock wieder etwas abgewinnen, nachdem sie in die Amtsstuben besagter Länder geblickt haben. Allerdings darf dies nun auch nicht als Plädoyer für Verwaltungsbarock missinterpretiert werden. Es bleibt dabei, dass die Verwaltung, um im Bild zu bleiben, unbedingt zum Bauhausstil finden muss: form follows function; einfach, schlicht und effektiv. Ohne Girlanden, Putti und Stuck.
 

Keine Entbürokratisierung ohne Aufgaben- und Standardkritik

Zur nötigen Differenzierung beim Thema Bürokratie gehört auch, dass die Verwaltung nicht nur und wohl nicht einmal in erster Linie aus sich selbst heraus wuchert. Zwar gibt es zweifellos auch diese Tendenz. In Anleihe an die Biologie ließe sich in diesen Fällen von Selbstbefruchtung, Autogamie, sprechen. Ins deutsche Liedgut hat dieses Phänomen durch Reinhard Mey Eingang gefunden, nämlich durch seinen „Antrag auf Erteilung eines Antragformulars / Zur Bestätigung der Nichtigkeit des Durchschriftexemplars / Dessen Gültigkeitsvermerk von der Bezugsbehörde stammt / Zum Behuf der Vorlage beim zuständ'gen Erteilungsamt“.

Sehr viel häufiger und in ungleich größerem Umfang nimmt Bürokratie freilich deshalb zu, weil der Verwaltung unablässig neue Aufgaben zugewiesen, bestehende Aufgaben erweitert oder vertieft beziehungsweise neue gesetzliche Vorgaben sowie Standards gesetzt werden. Dies ist freilich nichts, was der Verwaltung als solcher zurechenbar wäre. Denn zumindest in unseren westlichen Demokratien beruhen diese Aufgabenweiterungen und Regulierungen auf Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers bzw. der dem Parlament verantwortlichen Regierung. Und hier greift nun eine folgenschwere Systemlogik: Abgeordnete sollen und wollen in einer parlamentarischen Demokratie das umsetzen, was sie den Wählerinnen und Wähler versprochen haben. Und das ist typischerweise ein Mehr und nicht ein Weniger. Umgesetzt werden diese Wahlversprechen in der parlamentarischen Demokratie dadurch, dass die Legislative der Verwaltung zusätzliche Aufgaben auferlegt und neue gesetzliche Regelungen trifft. Die unvermeidliche Konsequenz dieser der parlamentarischen Demokratie eingeschriebenen Systemlogik ist eine fortlaufende Zunahme an Bürokratie.

Hieraus folgt: Entbürokratisierung ohne vorgängige und vorrangige Aufgaben- und Standardkritik ist weniger als die halbe Miete. Wer in Sachen Entbürokratisierung zurecht einen Mindset-Shift innerhalb der Verwaltung fordert, muss sich mit umso mehr Elan für einen Einstellungs- und Mentalitätswechsel bei Abgeordneten und Regierung einsetzen. Und in Sachen Überbürokratisierung immer nur mit dem spitzen Fingen auf die Verwaltung zu zeigen, heißt den Sack zu schlagen, obwohl der Esel gemeint sein sollte.

Prof. Dr. Alexis von Komorowski leitet als Hauptgeschäftsführer die Geschäftsstelle des Landkreistags Baden-Württemberg.
Prof. Dr. Alexis von Komorowski leitet als Hauptgeschäftsführer die Geschäftsstelle des Landkreistags Baden-Württemberg.
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New Work und Digitalisierung

Dies vorausgeschickt bleibt es natürlich dabei, dass es mehr als sinnvoll ist, in den Verwaltungen und damit auch in den Landratsämtern für Innovation zu sorgen, um so am langen Ende überkommene, unzeitgemäße Bürokratie aufzubrechen. In dieser Schwerpunktausgabe der Landkreisnachrichten finden sich etliche Praxisbeispiele, die illustrieren, wie Landratsämter ihre Strukturen und Prozesse modernisieren, um noch innovativer, effizienter und digitaler unterwegs zu sein. Wie eingangs erwähnt, sollen ab jetzt fortlaufend solche Good Practices in den Landkreisnachrichten veröffentlicht werden. Ziel ist es, dass Landkreise sich wechselseitig Anstöße geben und inspirieren. Um dies zu befördern, enthalten die entsprechenden Beiträge als Besonderheit alle einen gelben Infokosten, der auf einen Blick erkennen lässt, was beispielsweise der Mehrwert der betreffenden Verwaltungsinnovation und wer im betreffenden Landkreis die Ansprechperson ist. 

Die in dieser Schwerpunktausgabe versammelten Good Practices betreffen dabei insbesondere die Bereiche New Work und Digitales. Es geht insofern um Mitarbeitendenzentrierung, etwa durch flexible Arbeitszeit- und Arbeitsort-Modelle, und um die Nutzung digitaler Technologien, beispielsweise zur Kollaboration und Automatisierung. Es liegt auf der Hand, dass hierdurch wertvolle Beiträge zur Entbürokratisierung geleistet werden können.

Dass die eingebrachten Good Practices speziell den Bereich New Work und Digitales fokussieren, ist indes noch unter einem weiteren Gesichtspunkt bemerkenswert. So stehen die Verwaltungen bekanntlich vor erheblichen demografischen Herausforderungen. Der Fachkräftemangel hat inzwischen sämtliche Bereiche der Kommunalverwaltungen voll erfasst. Eine Antwort auf diese Herausforderung ist die Entbürokratisierung der Verwaltung. Eine weitere ist die größtmögliche Attraktivität der Verwaltung als Arbeitgeber. Dazu müssen sich die Kommunalverwaltungen gerade auch für die Generation Z, also die Generation der zwischen 1997 und 2012 Geborenen, hübsch machen. Für die Generation Z spielen ein die individuellen Bedürfnisse flexibel aufgreifendes Arbeitsumfeld sowie umfassendes digitales Arbeiten eine ganz andere, nämlich viel zentralere Rolle als für die Vorgängergenerationen. Auch vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, wenn die Landkreise bei ihren hausinternen Modernisierungsprozessen speziell auch auf New Work und Digitales setzen.
 

Zwei Wünsche an die Landespolitik

Zum Ende dieses Editorials sollen noch zwei Wünsche in Richtung der Landespolitik formuliert werden, um bei der Entbürokratisierung substanziell voranzukommen. Wichtig wäre es zum einen, dass verbindliche Strukturen und Verfahren geschaffen werden, um Aufgaben- und Standardkritik sowie Bürokratieabbau als Daueraufgabe wirksam zu verankern. So müsste der Normenkontrollrat mit einem suspensiven Vetorecht ausgestattet werden. Auch sollte es zur Nichtigkeit eines Gesetzes führen, wenn im Gesetzgebungsverfahren Verfahrensvorschriften außer Acht gelassen wurden, die der systematischen Vermeidung übermäßigen Aufgaben- und Standardaufbaus dienen. Gemeint sind Verfahrensvorschriften, die eine grundsätzliche Befristung von Rechtsvorschriften vorsehen, die „one in, one/two out“-Regel absichern oder einen Praxischeck vorschreiben.

Zum anderen muss die zwischen Land und Kommunalen Landesverbänden ausverhandelte E-Government-Vereinbarung endlich gezeichnet werden. Nur so können OZG-Leistungen strukturiert, flächendeckend und Ende-zu-Ende implementiert werden. Es darf nicht sein, dass Baden-Württemberg bei der Flächenverfügbarkeit von OZG-Leistungen von anderen Bundesländern immer weiter abgehängt wird. Auch hierzulande muss es endlich gelingen, den Volksmund Lügen zu strafen, wenn er spöttisch sagt: "Von der Wiege bis zur Bahre – Formulare, Formulare."

Prof. Dr. Alexis von Komorowski ist Hauptgeschäftsführer des Landkreistags Baden-Württemberg
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