Editorial

"… und so sich Leben im Leben vollende"

Lebensqualität und der Ruf nach mehr davon bedeuten in jeder Lebensphase etwas anderes. In der Lebensphase des Alterns spielt dabei neben manchem Sonstigen der soziale Zusammenhalt eine zentrale Rolle.
Prof. Dr. Alexis von Komorowski · Landkreistag Baden-Württemberg · 06. Oktober 2023
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Genau genommen, lässt sich auch die Lebensphase des Alterns nicht über einen Leisten spannen, wenn es darum geht, zu umreißen, was Lebensqualität ausmacht und wie ein Mehr davon aussieht. Die Wissenschaft unterscheidet vielmehr überzeugend zwischen jungem und hohem Alter, zwischen dem mit dem 65. Lebensjahr beginnenden third age und dem ab dem 80. Lebensjahr ansetzenden fourth age. Geht es im dritten Lebensalter häufig um das Gestalten und Ausgestalten der im Ruhestand neu gewonnenen Freiräume, treten im vierten Lebensalter gesundheitliche Fragen und solche der Betreuung zunehmend in den Vordergrund. 

Diese unterschiedlichen Phasen des Alterns versuchen wir als Landkreistag Baden-Württemberg in sehr konkreter und praktischer Art und Weise gerade auch in der Arbeit unserer Fachberatung Bürgerschaftliches Engagement und Quartiersentwicklung aufzugreifen. So knüpft unser Landkreisnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement systematisch daran an, dass viele junge Alte ihre Erfahrung und ihre neu gewonnene Freizeit in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen bereit sind. Die großen zivilgesellschaftlichen Ressourcen, die diese Bevölkerungsgruppe in sich birgt, vollends zu aktivieren und individuelle Sinnstiftung einerseits, soziale Wertschöpfung andererseits in eins zu bringen – dies sind Ziele, die unser Landkreisnetzwerk als das älteste der kommunalen Netzwerke zur Förderung des Bürgerschaftlichen Engagements mit großer Beharrlichkeit verfolgt.

Die Menschen im vierten Lebensalter wiederum sind im Fokus unserer Fachberatung Quartiersentwicklung. Ausgehend von Forschungsergebnissen, die besagen, dass speziell bei hochbetagten Menschen ein ausgeprägtes Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Begegnung existiert, haben wir zuletzt ein besonderes Augenmerk darauf gerichtet, wie im Quartier intergenerationelle Solidarität gestärkt werden kann. Es geht dabei nicht zuletzt um die Chancen, aber durchaus auch um die Grenzen von Nachbarschaftshilfe und ehrenamtlichen Unterstützungssystemen.


Lebensqualität im Alter perspektivisch gefährdet

Wenn die Lebensspanne ab 65 Jahren vom Landkreistag und mit uns von vielen anderen sozialpolitischen Akteuren gerade auch unter den Gesichtspunkten des bürgerschaftlichen Engagements und der Quartierentwicklung in den Blick genommen wird, so hängt dies nicht nur und vermutlich nicht einmal in erster Linie mit der natürlich immer wünschenswerten Steigerung von Lebensqualität im Alter zusammen. Mindestens genauso bedeutsam und wahrscheinlich noch wichtiger ist die Entlastungsfunktion, die man sich hiervon im Hinblick auf den demografischen Wandel erhofft. Denn perspektivisch droht dieser die Lebensqualität im Alter ernsthaft zu gefährden.

Tatsache ist: Unsere Gesellschaft altert massiv. Dieser Trend wird auch durch Zuwanderung lediglich abgeschwächt. Bis 2055 wird für Baden-Württemberg ein Anstieg der Pflegebedürftigen um 50 Prozent prognostiziert. Das ist der zweithöchste Wert bundesweit. Gleichzeitig sinkt, ebenfalls demografisch bedingt, der Anteil der Bevölkerung im Erwerbsalter, also der Anteil der Menschen, die potenziell Aufgaben im Gesundheits- und Pflegesystem übernehmen können – sei es beruflich als Pfleger, Ärztin oder in einer sonstigen vergleichbaren Profession, sei es im Rahmen der hier im Land glücklicherweise immer noch relativ starken Angehörigenpflege. Die demografische Schere, die sich immer weiter öffnet, wenn der Anteil potenziell pflegebedürftiger Menschen zunimmt und die Erwerbsbevölkerung zurückgeht, dieser demografische Gap lässt den Kollaps unseres Pflegesystems als ein durchaus vorstellbares Risikoszenario erscheinen – jedenfalls dann, wenn nicht konsequent gegengesteuert wird.

Hierzu, nämlich aktiv und energisch gegenzusteuern, sind alle politischen Ebenen aufgerufen. Der Bund ist insbesondere aufgefordert, die Pflegeversicherung so fortzuentwickeln, dass nicht immer mehr Versicherte in die Sozialhilfe abrutschen. Genau dies aber ist nach derzeitiger Rechtslage der Fall, weil die Pflegekassen nur einen fixen Anteil an den Pflegekosten übernehmen, der darüber hinausgehende Teil aber als Eigenanteil von den Versicherten getragen werden muss. In Baden-Württemberg fällt dieser Eigenanteil für Heimbewohner besonders hoch aus. Er betrug zum 1. Juli dieses Jahres durchschnittlich 2913 Euro pro Monat für einen Platz im ersten Jahr. Dies sind 365 Euro mehr als im Bundesdurchschnitt. Daher bedarf es eines Sockel-Spitze-Tauschs: Die Pflegekasse muss alle notwendigen pflegebedingten Kosten übernehmen und den Versicherten nur mehr ein fixer, gesetzlich festzulegender Sockelbetrag berechnet werden.  

Prof. Dr. Alexis von Komorowski leitet als Hauptgeschäftsführer die Geschäftsstelle des Landkreistags Baden-Württemberg
Prof. Dr. Alexis von Komorowski leitet als Hauptgeschäftsführer die Geschäftsstelle des Landkreistags Baden-Württemberg
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Land verantwortlich für pflegerische Versorgungsstruktur

In der Pflicht steht aber insbesondere auch das Land. Rechtlich gibt es da kein Vertun. Im Sozialgesetzbuch XI heißt es ganz zu Beginn in den Allgemeinen Vorschriften: „Die Länder sind verantwortlich für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungsstruktur.“ Anders als so manche Äußerung des Landes es glauben machen möchte, beruht dessen Rolle mitnichten allein darin, die Aktivitäten anderer lediglich zu flankieren.

Es muss daher mit großer Ernsthaftigkeit darüber gesprochen werden, wie eine ambitionierte quartiersbezogene Landes-Pflegeinfrastrukturförderung konfiguriert sein sollte. Übergangsweise könnte die Neuauflage einer neu justierten Landespflegeheimförderung jedenfalls teilweise Abhilfe schaffen. Ebenfalls im Raum steht hier der Vorschlag des Landkreistags für ein einkommens- und vermögensabhängiges Landespflegegeld.

Von zentraler Bedeutung ist es überdies, entbehrliche Standards und überbordende Bürokratie abzubauen. Auf diese Weise können an falscher Stelle gebundene Ressourcen mobilisiert und Gestaltungsspielräume für gelingende Pflege zurückgewonnen werden. Hier setzen die baden-württembergischen Landkreise große Erwartungen in die Entlastungsallianz, auf die sich das Land und acht Verbände, darunter der Landkreistag, am 13. Juli dieses Jahres verständigt haben.

Schließlich, aber nicht zuletzt, muss das Land mithelfen, dass sich bürgerschaftliches Engagement und Quartiersentwicklung strukturell verfestigen und landesweit wirksam werden. Denn ohne die auf breiter Front entlastende Wirkung von ehrenamtlich Tätigen und lebendiger Nachbarschaft wird die notwendige Stärkung von Unterstützungsleistungen für ältere Menschen weder möglich noch finanzierbar sein. In seinem jüngsten pflegepolitischen Positionspapier hat der Landkreistag Baden-Württemberg daher auch zwei Erwartungen an das Land gerichtet. Zum einen geht es darum, den Landkreisen Mittel in Höhe von einem Euro pro Kreiseinwohnerin respektive Kreiseinwohner zur Verfügung zu stellen. Über ein regionales Sozialraumbudget sollen so finanzielle Anreize zur Bildung wirksamer örtlicher Netzwerk- und Versorgungsstrukturen gesetzt werden können. Es geht darum, so das Positionspapier, einen Beitrag zur Verbesserung der Langzeitbetreuung zu leisten und Sorgearbeit als Gemeinschaftsaufgabe von Leistungserbringern, Verwaltung und der Zivilgesellschaft in die Mitte der Gesellschaft zu rücken.

Zum anderen geht es bei der aktuellen pflegepolitischen Positionierung des Landkreistags um die Vertiefung der Quartiersentwicklung. Ausgangspunkt ist der Befund, dass sich die Kommunen angesichts ihrer aktuellen Be- und Überlastungssituation vielfach außerstande sehen, die ungemein wichtige Quartiersthematik gleichsam nebenher zu betreiben. Als sinnvoll und zielführend erscheint daher – ergänzend zur bestehenden und natürlich immer noch ausbaufähigen Quartiersförderung – eine Basisfinanzierung für professionelle Kümmererinnen- und Kümmererstrukturen auf Landkreisebene, damit die Quartiersentwicklung im kreisangehörigen Raum hierdurch nachhaltig vorangetrieben werden kann.
 

Sozialraum und Quartier als Orte intergenerationeller Solidarität

Diese beiden zuletzt angeführten Kernerwartungen der baden-württembergischen Landkreise lassen nochmals wie unter einem Brennglas erkennen, weshalb der soziale Zusammenhalt in der Lebensphase des Alterns eine so bedeutsame Rolle spielt: Der Sozialraum und das Quartier sind Orte, wo in professionell-zivilgesellschaftlicher Koproduktivität intergenerationelle Solidarität und damit sozialer Zusammenhalt im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar wird. Das Ganze lässt sich natürlich auch anders als in Soziologendeutsch formulieren. Johann Wolfgang von Goethe hat diese Zusammenhänge in Hexameter gefasst – im letzten Gesang seines Versepos Hermann und Dorothea, das zu seinen Lebenszeiten größte Popularität genoss, heute nahezu vergessen ist und mit der ihm zugrunde liegenden Flucht- und Vertreibungsgeschichte doch aktuell bleibt. Dort lesen wir: „Zeige man doch dem Jüngling des edel reifenden Alters Wert und dem Alter die Jugend, daß beide des ewigen Kreises Sich erfreuen und so sich Leben im Leben vollende!“

Prof. Dr. Alexis von Komorowski ist Hauptgeschäftsführer des Landkreistags Baden-Württemberg
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